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Dienstag, 22. Oktober 2013

Kette der Gewalt



"Obwohl wir alle glauben, dass unsere menschliche Art den höchsten Punkt auf der evolutionären Skala darstellt, gibt es einen kritischen Bereich, in dem es uns nicht gelungen ist, uns weiterzuentwickeln, einen Bereich, in dem wir keine Verbesserung gegenüber unseren Vorgängern darstellen. Und dieses Misslingen ist so fundamental, so kritisch, dass unser langfristiges Überleben auf dem Spiel steht. Letzten Endes stellt es eine größere Bedrohung dar als Krieg, Armut, Hunger, Verbrechen, Verbrechen - auch in der Völkermord-Variante - kombiniert. Das fundamentale Misslingen ist dieses: Wir beschützen und bewahren nicht die Unseren. Unser Begriff von der menschlichen "Familie" als dem Schutzwächter unserer Art hat sich nicht weiterentwickelt. Anstelle dessen ist er in die entgegengesetzte Richtung gegangen - er hat sich zurückentwickelt."
Andrew Vachss, Unsere gefährdete Art, 1998




Hochwasser
Andrew Vachss ist ein US-amerikanischer Rechtsanwalt, der ausschließlich Kinder und Jugendliche in Gerichtsverfahren vertritt. Außerdem ist er Krimiautor und greift das Thema Gewalt gegen Kinder - Vernachlässigung, Misshandlung, sexuelle Gewalt - auch in seinen Romanen auf. Bislang habe ich noch nirgendwo, erst recht nicht im deutschsprachigen Raum, vergleichbare Texte wie die von Andrew Vachss gelesen, Texte, die derart klar und kompromisslos für die Rechte der Kinder Partei ergreifen und von einem derart tiefem Verständnis für die schwerwiegenden Folgen emotionaler Misshandlung zeugen.


Mittwoch, 16. Oktober 2013

Mulier taceat in ecclesia II

Fortsetzung von Teil I

Bordell Europas


Soll die Prostitution abgeschafft werden, fragte Günter Jauch in einer seiner Talk-Shows. Die deutschen Männer sind sich, laut Infratest-Umfrage, weitgehend einig: Nein. Leider auch die Frauen: Angeblich 78% von ihnen finden die derzeitigen Verhältnisse offenbar ok. Kein Wunder, wenn in einer frauenfeindlichen Gesellschaft der Hälfte der Bevölkerung offenbar jegliches Gefühl für Menschenwürde abtrainiert worden ist, falls es denn je existiert hat.
In Deutschland ist die Prostitution seit 2002 legal. Ausgerechnet Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger FDP trieb das Deregulierungsgesetz zur Prostitution voran. Das Gesetz wurde am 14. Dezember 2001 mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen. Seitdem stieg die Zahl der Prostituierten sprunghaft an. Dass dadurch erwartungsgemäß auch die Preise für diese Dienstleistung sanken, ist eine Folge der Marktlogik, dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Die Frau wird auf den Status einer allzeit käufliche Ware herabgewürdigt. Inzwischen ist Deutschland das "Bordell Europas", ein Paradies für Menschenhändler, Kinderschänder und Zuhälter. Auch bei diesem Thema lohnt ein Blick in die Webforen, um die Rückständigkeit, das Anachronistische der deutschen Männergesellschaft zu erkennen.
"Tatsächlich gibt es für Städte und Bundesländer nicht so viele Möglichkeiten, gegen Prostitution vorzugehen. Die Bundesregierung hat das Prostitutionsgesetz 2001 neu geregelt. Prostituierte sollte ein Beruf wie jeder andere werden, sozialversichert und besteuert. Wer sich mit Leuten unterhält, die sich in der Szene auskennen, egal ob Polizisten oder Zuhälter, bekommt zwölf Jahre später zu hören, dass sich eigentlich nichts zum Besseren geändert hat. Das gutgemeinte Gesetz nutze vielmehr Zuhältern und Menschenhändlern statt den betroffenen Frauen. (...) Keine Krankenversicherung nimmt eine Prostituierte zu bezahlbaren Konditionen. Und weil der Staat Steuern erheben will, aber die Einnahmen kaum nachprüfen kann, verlangen manche Städte etwa pauschal 25 Euro pro Tag von Bordellbetreibern. Die geben die Kosten meistens an die Prostituierten weiter, auch wenn sie nur 100 Euro am Tag verdienen." (SPIEGEL online, "Saarbrücken: Die Prostitution hat unerträgliche Ausmaße angenommen", 25.09.2013)

Dienstag, 15. Oktober 2013

Häng dich doch auf, du Depri



"Es zeugt nicht von geistiger Gesundheit, an eine von Grund auf kranke Gesellschaft gut angepasst zu sein."
Jiddhu Krishnamurti, indischer Philosoph, 1895-1986 



Blumen und Licht. Aquarell
Depressive Menschen sind ein Lackmus-Test, ein Warnsignal für die Gesellschaft, sie sind Charaktertester für ihr soziales Umfeld, falls sie überhaupt noch eines haben. Depressive sind womöglich die letzten Exemplare dessen, was man früher mit dem Prädikat "menschlich" bezeichnet hat als Gegensatz zu "unmenschlich". 
Nach epidemiologischen Studien erkranken etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung im Lauf des Lebens an einer Depression. Gemeint sind damit nicht leichte Verstimmungen, sondern behandlungsbedürftige psychische Probleme. Die von Jahr zu Jahr steigenden Fallzahlen lassen hoffen, dass irgendwann auch der abgestumpfteste, emotional verkrüppelte Rest erkennt, dass etwas grundsätzlich faul sein muss im System. Es ist kein Zufall, dass sich die Zahl psychischer Erkrankungen in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt haben.

Montag, 14. Oktober 2013

Nagelprobe


"Sechs friedliche Jahrzehnte haben dafür gesorgt, dass die Bürger die Grundrechte nicht mehr als schützenswertes Allgemeingut, sondern als eine Sammlung von Privatansprüchen auf persönliche Bedürfnisbefriedigung missverstehen. Jeder, der sich vom Leben ungerecht behandelt fühlt, besinnt sich auf seine "Grundrechte" wie auf einen Forderungskatalog, den Millionen nörgelnder Einzelkinder ihrem "Vater Staat" entgegenhalten. In Wahrheit sind die Grundrechte ihrer Konzeption nach keineswegs Gutscheine auf persönliche Fürsorge, sondern ein Abwehrschirm gegen staatliche Eingriffe."
Ilija Trojanow/Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit, dtv 2010,. S. 29



Spreetshoogte, Namibia
Was soll man dazu noch sagen? Nichts. Es gibt nichts mehr zu sagen. Und dabei hat man ja schon so einige Verschwörungstheorien gelesen und über die meisten im Stillen geschmunzelt. Die Realität übertrifft einmal wieder die wildeste Sciencefiction-Phantasie. Mahnungen und Warnungen, die man noch vor 5, erst recht vor 10 Jahren zu Datensicherheit und Privatsphäre gelesen oder selber geschrieben hat, wirken jetzt angesichts flächendeckender jahrzehntelanger, systematischer Überwachung fast kleinkariert: Was, darüber konnte man sich früher noch aufregen? In welchem Ausmaß die Einstellung zu Freiheit und Sicherheit während der letzten drei Jahrzehnte gekippt ist, lässt sich im direkten Vergleich zu den Volkszählungsprotesten Anfang der 80er erkennen. Der Zensus 2011 ist auch weitgehend ohne Gegenwehr geschluckt worden.

Donnerstag, 26. September 2013

Beste Kontakte


"Nicht der beste Bewerber bekommt den Job... sondern der mit den besten Kontakten."
XING - das professionelle Netzwerk



Namib-Wüste
Das oben genannte Zitat ist ein Werbespruch vom Karrierenetzwerk XING, der mir mal als GoogleAd aufgefallen ist - ein völlig ungeniertes Bekenntnis zur Klüngelwirtschaft. Leider habe ich es versäumt, rechtzeitig einen Screenshot zu machen. Mittlerweile hat das Netzwerk die Werbung anscheinend zurückgezogen, sie war ihr wohl selber schon zu peinlich geworden.

Nepotismus, Filz und Klüngel regiert in der Wirtschaft, genauso wie in der Politik. "Stallgeruch", verwandtschaftliche Beziehungen, das Parteibuch entscheiden über Job und Aufstieg oder Arbeitslosigkeit. Universitäten, Burschenschaften, Privathochschulen sind Kaderschmieden für den Elite-Nachwuchs. Die Vereinsmeierei hat in Deutschland Tradition.

Freitag, 20. September 2013

Irrationale Agenten


"Um wahr zu sein, müßte sich die Wissenschaft kritisch zu sich selber verhalten und auch zu der Gesellschaft, die sie produziert."
Max Horkheimer, Gesellschaft im Übergang, Frankfurt a.M. 1981, S. 183



Waldweg
Die Volkswirtschaftslehre, die Ökonomie als akademische Disziplin ist, wenn man bei Francois Quesnay's "Tableau économique" von 1758 ansetzt, etwas über 250 Jahre alt. Philosophisches Denken  - das systematische Reflektieren über und Infrage stellen von als selbstverständlich vorausgesetzten Phänomenen - lässt sich bis zu den Anfängen der Geschichtsschreibung um ca. 600 Jahre v. Chr. nachweisen. Philosophie ist eine Grundlagenwissenschaft. Das wird im heutigen verflachten Diskurs stets verdrängt oder marginalisiert. Wenn es überhaupt irgendeine Disziplin gibt, die von sich behaupten kann, sich gegenüber den Gefahren interner Betriebsblindheit so weit wie möglich immunisiert zu haben, dann die Philosophie. Das Hinterfragen der eigenen wissenschaftlichen Begrifflichkeit, Methoden und Prämissen ist hier ein Prinzip der Erkenntnisgewinnung und keine Freizeitbeschäftigung, kein Luxus, der in irgendwelchen Proseminaren, Wahlfächern und Weiterbildungskursen sein Schattendasein fristet.

Mittwoch, 18. September 2013

Reif zur Übernahme III



"Die alte jüdische Legende von den 36 unbekannten Gerechten, die immer da sind und ohne deren Anwesenheit die Welt in Scherben fiele, sagt letztlich darüber etwas aus, wie notwendig solch 'edelmütiges' Verhalten beim normalen Gang der Dinge ist."
Hannah Arendt, 1948,  Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten?, S. 68 in dies.: Israel, Palästina und der Antisemitismus, Wagenbach, Berlin 1991, S. 39 - 75




Three Wise Monkeys stencil in Barcelona, Spain, 
by grahamc99, flickr
Deutschland ist mittlerweile ein potemkinsches Dorf. Die Regierung bedient nur noch eine privilegierte Minderheit, die in einer vollkommen abgeschotteten selbstreferentiellen Blase, einem Paralleluniversum lebt. Der Rest, die Mehrheit der Bevölkerung, ist abgeschrieben, sich selbst überlassen, nur noch mit dem zermürbenden Kampf um den bloßen Lebensvollzug, die nackte Existenz beschäftigt: Wohnungssuche, Jobsuche, Suche nach Kitaplätzen, Suche nach Zusatzeinkommen, nach Kreditangeboten, Suche nach der günstigsten KFZ-Werkstätte, der günstigsten Tankstelle, dem günstigsten Strom- und Mobilfunkanbieter, der Beschaffung von Drogen. Wenn die Hälfte der Gesamtbevölkerung, die 40 Millionen Menschen, denen seit Jahren das Wasser bis zum Hals steht, von heute auf morgen verschwinden würden, die Privilegierten würden es vielleicht noch nicht einmal merken. Totale Realitätsverleugnung. Auf dem Papier die viertgrößte Industrienation der Welt, mit einem der höchsten Bruttosozialprodukte, in der Realität, hinter den Pappkulissen verrottete Häuserzeilen, ausgestorbene Dörfer, kaputte Straßen und Bahnstrecken, Slums, organisierte Kriminalität, Gewalt, Armut, Krankheit - wie in den Entwicklungsländern.

Montag, 16. September 2013

Hatespeech


"The two biggest self-deceptions of all are that life has a 'meaning' and each of us is unique".
David Byrne, britischer Musiker, 2011



Blume. Pastell
Das Internet ist ein Verstärker, im Guten, aber leider mehr noch im Schlechten. Denn leider fallen die strukturellen Merkmale "sozialer" Netzwerke, nämlich als Humus, als Nährboden für asoziales Verhalten, für Vereinzelung, für die Verstärkung des Tunnelblicks, des Blinden Flecks, für Intoleranz und Schubladendenken stärker ins Gewicht, weil die Folgen für die Allgemeinheit, für alle User, für alle Menschen, sowohl online als auch offline spürbar unangenehmer sind: Stalking, feiges Denunziantentum, Voyeurismus, hemmungsloser Ego-Exhibitionismus, Rufmord, Betrug durch gefakte Profile, gefakte Rezensionen und Produktbewertungen, Internet-Pranger und Cyber-Mobbing, politische Propaganda durch Spin-Doktoren.

Soziale Verhaltensweisen werden einem im Web regelrecht abtrainiert, abgewöhnt. Das Netz ist mittlerweile komplett verseucht, der Freundschaftsbegriff auf Facebook vollkommen pervertiert. "Freunde" sind hier schlicht und ergreifend Marktkontakte, menschliche Kontakte sind eine Ware.

Das Verschwinden der Handschrift


Der Computer verändert das Denken. Nachhaltig. Das zeigt sich nicht nur in der Metaphern der Umgangssprache. Wenn vom Resetten die Rede ist, vom Neustart, vom Runterfahren, wenn Entspannung, vom Schaden auf der Festplatte, wenn das Gehirn gemeint ist.

Ich habe erlebt, wie einem langjährigen Computernutzer, nachdem er aus Versehen ein wichtiges Papierdokument geschreddert hat, ein rettendes Bild im Kopf aufstieg: der blaue Windows Rückgängig-Pfeil.


Dienstag, 3. September 2013

Rien ne va plus



"Much of what has gone on can only be described by the words"moral deprivation."
Joseph Stieglitz, The Price of Inequality, W. W. Norton & Company, 2012, p. XVII



Spinnenhund
Hätte mir jemand vor 30 Jahren prophezeit, dass ich mich eines Tages einmal - freiwillig ! - mit dem Banken- und Finanzsystem befassen würde, ich hätte ihn für verrückt gehalten. Ich interessiere mich für Kunst, Literatur, Musik, Wissenschaft, aber doch nicht für den schnöden Mammon. Im Herbst 2008 nach der Lehman-Pleite ist es allerdings tatsächlich so gekommen (was ich immer noch als absolute Zumutung empfinde). Seitdem lässt sich mein Gemütszustand am besten mit dem Begriff Fassungslosigkeit beschreiben. Viel ist über das Thema mittlerweile geschrieben und gesendet worden, aber die Texte, die mir am ehesten Klarheit  verschafft haben, sind die 9 Thesen zum Geld von Margrit Kennedy:

Montag, 2. September 2013

Arbeitslosigkeit als Krankheit

...oder als beglückende Möglichkeit der Kontemplation




Berge. Aquarell
„Was einer Gesellschaft Arbeit bedeutet, zeigt sich an ihrem Verhältnis zur Arbeitslosigkeit“ konstatiert treffend Christoph Türcke in seinem Aufsatz „Gottesgeschenk Arbeit. Theologisches zu einem profanen Begriff“. (In: Hamburger Adorno-Symposion. Dietrich zu Klampen Verlag 1984). Dieser Text ist heute leider immer noch so aktuell wie damals, gehörte aber nie zu den philosophischen Bestsellern. Es ist symptomatisch, dass solche und andere kritische Texte ein Nischendasein fristen oder – wenn überhaupt – nur im Eigenverlag erscheinen können.

Warum nur habe ich immer so ein ungutes Gefühl bei Politiker-Phrasen wie „Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“. Für mich klingt das immer wie der Kampf gegen irgendeine Krankheit, gegen ein Ungeziefer, das ausgemerzt werden muss, gegen einen ansteckenden Virus. Ähnlich wie "Kampf gegen Aids". Die Arbeitslosenquoten würden dann den Ansteckungsgrad innerhalb der Bevölkerung abbilden. Warum nicht gleich konkret und ehrlich sagen: Kampf gegen die Arbeitslosen? Da begreift man doch endlich, worum es wirklich geht. Wie bekämpft man nun aber die Millionen von Arbeitslosen? Mit Gift? Geht ja schlecht, zu hohe Streuverluste. Wohin auch danach mit den Leichen? Aushungern durch 100%ige Streichung der Leistung? Schon eher eine Möglichkeit, verdirbt dann aber wieder die Kriminalitätsstatistik.


Die unaufhaltsame Verblödung der Deutschen


"In diesem Moment begriff er, dass niemand den Verstand benutzen wollte. Menschen wollten Ruhe. Sie wollten essen und schlafen, und sie wollten, dass man nett zu ihnen war. Denken wollten sie nicht."
Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, Rowohlt Reinbek, 2009 .S. 55




Haus am Meer. Filzstift und Aquarell
Kürzlich hielt ein Marketing-Professor aus Krefeld in Dannenberg einen Vortrag zum Thema „Mit Charisma zum Erfolg – Nachhaltige Erlebnisorientierung bei Kommune und Handel“. Was in diesem Vortrag ebenfalls zur Sprache kam, waren Thesen zur zukünftigen Entwicklung unserer Gesellschaft, sogenannte Mega-Trends, mit denen sich auch Kommunen und Gewerbe auseinander zusetzen hätten und die unter anderem die Geburtenentwicklung betreffen. Ich war im Auftrag unserer Lokalzeitung zu diesem Vortrag geschickt worden und zitiere im Folgenden aus meinem Pressebericht vom 15. Mai 2006:
„Der Professor sparte (...) nicht mit klaren Worten: ‚Wer kriegt heute die Kinder - das gutverdienende Anwaltsehepaar oder der Schlosser und seine Ehefrau, die als Friseuse arbeitet?’ fragte er und ließ sein Publikum mitraten. Dieses wusste die richtige Antwort und tippte auf letzteres Beispiel. Die unerfreuliche Folge dieses Trends allerdings, sei, so ließ Schmitz keinen Zweifel, die unaufhörliche Verblödung der Deutschen’."

Donnerstag, 29. August 2013

Bullshit Jobs



"Der gegenwärtige Produktionsapparat ist also einerseits diese gigantische Maschine zur psychischen und physischen Mobilisierung, zum Aufsaugen der Energie der überschüssig gewordenen Menschen, andererseits ist er diese Maschine zum Aussortieren, die den konformen Subjektivitäten das Überleben gewährt und alle "Risikoindividuen" im Stich lässt, all jene, die einen anderen Gebrauch des Lebens verkörpern und ihm gerade dadurch widerstehen. Auf der einen Seite erhält man die Gespenster am Leben, auf der anderen Seite lässt man die Lebenden sterben. Das eben ist die spezifisch politische Funktion des gegenwärtigen Produktionsapparats. Sich jenseits und gegen die Arbeit zu organisieren, aus dem Regime der Mobilisierung kollektiv zu desertieren, die Existenz einer Lebenskraft und einer Disziplin in der Demobilisierung selbst zum Ausdruck zu bringen, ist ein Verbrechen, das eine Gesellschaft in Bedrängnis nicht bereit ist, uns zu verzeihen; es ist tatsächlich die einzige Art, sie zu überleben."
Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand, Edition Nautilus 2010, S. 33/34



Winter
Hat sich jemals einer Gedanken darüber gemacht, woran es liegt, dass fast alle Arbeiten, die etwas mit hoher persönlicher Verantwortung zu tun haben - Fahrdienstleiter, Assistenzärzte, Polizisten -, oder Berufe, die konkrete Hilfeleistungen für andere Menschen anbieten - Ernährungsberater, Sozialarbeiter, Altenpfleger, Rettungssanitäter -, oder Berufe, in denen die Liebe zum Lebendigen wichtig ist - Tierpfleger, Gärtner, Erzieher -, oder kreative und forschende Arbeit wie die von wissenschaftlichen Mitarbeitern an Universitäten - warum diese Tätigkeiten so prekär sind und so schlecht bezahlt werden? Warum können freiberufliche Autoren, Journalisten, Grafiker, Künstler, Musiker von ihrer produktiven Arbeit kaum noch leben, ganz im Gegensatz zur "Content"-Industrie, die diese Kreativität lediglich parasitär vermarktet und vermittelt? Und hat mal jemand über die Frage nachgedacht, wozu ein Unternehmen überhaupt Unternehmensberater braucht?

Parasiten



"Quite an experience to live in fear, isn't it? That's what it is to be a slave."
Replikant Roy, in "Blade Runner", 1982, Regie: Ridley Scott




Abstrakt. Aquarell
In letzter Zeit sind hier und da Kommentare zu lesen, die eine Abkehr von der Abhängigkeit von Großkonzernen fordern. Weg von der Abhängigkeit vom Strom- und Benzin- , vom Kartoffel- und Matratzenkartell, weg von der Abhängigkeit von Medienkonzernen, von Nahrungsmittelkonzernen, von Ölkonzernen, von Pharmakonzernen. Es gibt kaum noch Lebensbereiche, in dem der moderne Mensch zwischen mindestens zwei gleichwertigen Alternativen wählen kann, weder in seinem Konsumverhalten noch in seiner persönlichen Lebensführung.

Sonntag, 30. Juni 2013

Ausverkauf


"The fires of Isengard will spread. And the woods of Tuckborough and Buckland will burn. And... and all that was once green and good in this world will be gone. There won’t be a Shire, Pippin."
Merry, in: The Two Towers, Lord of the Rings, Regie: Peter Jackson, 2002



Eisblumen
Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks hatten viele Menschen gehofft, dass nun ein neues goldenes Zeitalter beginnen würde. Das Ende des kalten Krieges, so stellt sich jedoch heraus, war in Wirklichkeit der Beginn eines neuen. Wie sagte Warren Buffet: "Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir werden gewinnen" (”There’s class warfare, all right, […] but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning”, im Interview mit Ben Stein in der New York Times, 26. November 2006)

Der Wegfall des wie unvollkommen in praktischer Hinsicht auch immer gearteten Korrektivs, der Antithese zum Kapitalismus entfaltet eine gewaltige Unwucht. Wie ein Planet, der aus dem  Gleichmaß seiner Bahn geworfen wird und hilflos und ohne Kontrolle im All herumtrudelt.

Sonntag, 23. Juni 2013

Notizen über Webforen



Wenn die Zahl derer, die mitzureden haben, ins Unermessliche steigt, dann hören die auf zu reden, die etwas zu sagen haben.
Verfasser unbekannt



Damara, Namibia
Ein aufmerksamer Leser, der sich durch die öffentlich zugänglichen Presse- und Meinungsportale, durch Forumsbeiträge und Benutzerprofile klickt, wirft quasi einen Blick in eine seit über 20 Jahren laufende Versuchsreihe mit lebenden „Laborratten“. Denn hier treffen nicht nur verschiedene Altersgruppen aufeinander, sondern zugleich Denkweisen, die unvereinbar sind, und die, wie mir scheint, auf dem unterschiedlichen Umgang mit dem Internet beruhen. Der Unterschied ist so fundamental, weil er viel tiefgreifendere Folgen hat wie etwa die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs.


Sonntag, 16. Juni 2013

Mulier taceat in ecclesia I


"Das Überleben der modernen Ökonomien hängt von der bezahlten und unbezahlten Arbeit, der Kaufkraft und der Reproduktionsfähigkeit von Frauen ab. Dass Frauen sich dieser Macht bewusst würden, wäre unerträglich: die Gefahr einer Revolte wäre zu groß. Wenn die Konsumgesellschaft in der Art und Weise weiterexistieren soll wie gewohnt, ist es unabdingbar, dass diese latente Macht enteignet, bezähmt und gefügig gemacht wird."
Laurie Penny: Fleischmarkt, Edition Nautilus 2012, S. 9



Kamanjab, Namibia

Vorbemerkung


Es geht in diesem Essay nicht um die Frage auf Sandkastenniveau, wer die bessere Hälfte ist, es geht nicht um ein primitives Entweder-Oder, um ein Gegeneinander ausspielen. Charaktermängel und verwerfliches Verhalten sind über die Geschlechter gleichmäßig verteilt. Ich habe und hatte in meinem Leben mit völlig verkorksten, abgrundtief niederträchtigen, hinterhältigen, heuchlerischen, feigen und vor allem zum Erbrechen intriganten Frauen zu tun. Sondern es geht um die grundsätzliche Frage nach der Rechtfertigungsfähigkeit von realer männlicher Herrschaft, der männlichen Anmaßung einer a priori-Vorrangstellung, um die Bedingungen der Möglichkeit von Gleichberechtigung, um universale Menschenrechte.

Sonntag, 9. Juni 2013

Die Bewusstseinspyramide


"Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte statt dessen auf die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Film- mit den Waffeninteressenten deuten, den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann."
Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 1980, S. 113f.)



Eine andere Welt. Aquarell
Es ist merkwürdig mit dem menschlichen Fortschritt. Wir haben das Gefühl, dass zu keiner Zeit Fehler besser und genauer dokumentiert wurden als heute, dass niemals zuvor soviel Wissen für so viele Menschen jederzeit verfügbar gewesen ist. Und doch: Die Fehltritte und Fehlentscheidungen wiederholen sich. Allerdings sind heute die Folgen schwerwiegender als je zuvor. Einer meiner früherer Studienkollegen hatte eine Idee, wie sich die Ursache für all das in einem Bild darstellen ließe. Er nannte es die Bewusstseinspyramide.





In Memoriam


"Wir leben in der besten aller Welten, sagen Menschen mitunter. Ich denke, wir haben in der besten aller Welten gelebt, dann wurden wir gierig, dann wollten wir immer mehr, und dann wurde irgendwann das Licht gnädig ausgeschaltet."
Sybille Berg auf SPIEGEL online: Wir haben leider keine Zukunft für dich, 01.06.2013




Amrum, Abend
Dies ist eine Liste von aussterbenden menschlichen Verhaltensweisen und Eigenschaften.

Sinn für Gerechtigkeit und Fairness. Ein Bewusstsein für die Tatsache, dass es grundsätzlich unfair und feige ist, wenn eine Meute einen ungeschützten Einzelnen angreift.

Solidarität und Zivilcourage. Für Menschen öffentlich eintreten, die unfair behandelt und von einer Mehrheit angegriffen werden. Nicht, um sich damit als "guter Samariter" zu profilieren, sondern um der Gerechtigkeit, des Kräfteausgleichs willen.

Authentizität. Wird heute überaus geschätzt, jeder will authentisch zu sein. Das Problem ist nur: So etwas muss man sich zumindest hierzulande auch finanziell leisten können.

Samstag, 25. Mai 2013

Reif zur Übernahme II


"If liberty means anything at all it means the right to tell people what they do not want to hear."
George Orwell, aus dem zensierten Vorwort von "Animal Farm, 1945



Herbst
Diederich Heßling ist wieder da. Nein, ich muss mich korrigieren: Er war nie weg gewesen. Nur eine Weile untergetaucht, das muss so zwischen 1963 und 1974 gewesen sein., vielleicht hat er auch sicherheitshalber bis zum Mauerfall 1989 gewartet, um ganz sicher zu sein, dass die Luft jetzt rein ist.

Am 10.12.2012 berichtete der NDR über den Immobilienmarkt auf Sylt. Hier stehen Luxusvillen im Wert von mehreren Millionen leer, dienen als reine Spekulationsobjekte, während gleichzeitig Saisonarbeiter und Einheimische in überteuerten Mietwohnungen oder auf dem Campingplatz oder gleich auf dem Festland wohnen müssen. Reiche Neu-Sylter beschäftigen Einheimische als Gärtner, Wachmänner und Putzkräfte. Die Dörfer sind nachts ausgestorben, nachbarschaftliche Strukturen zerstört. Schulen schließen, Vereine trocknen aus. Ein privates Elite-Internat ist geplant. Eine Einheimische kommentiert die Situation mit den Worten: "Es ist fast nicht menschlich, was hier passiert". Sylt ist überall, Sylt ist Deutschland im Kleinformat.

Samstag, 4. Mai 2013

FTD adé


Am 07. Dezember 2012 erschien die Financial Times Deutschland (FTD) zum letzten Mal. In den Forenbeiträgen auf SPIEGEL online und ZEIT online zur Berichterstattung über die Einstellung der Zeitung wird sie wie folgt bezeichnet:

"Vor allem unerträglich ist der Gutmenschen-Journalismus mit viel Verständnis für zeitgeistige Systemkritik an Stelle von ordnungspolitischer Orientierung."

"Der Fehler der FTD war zuletzt, dass man den Spiegel häufig noch links überholen wollte."

"(...) Zeitungen mit sozialdemokratischer Ausrichtung (...)"

Dokumentation: Bildung

Bildung in Deutschland: Schule, Chancenungleichheit, Bildungsprekariat, Wissenschaft, Plagiate


ZEIT online
Neue deutsche Konflikte
18.09.2013

Kommentare (Auswahl):

Dokumentation: Reif zur Übernahme

Dokumentation: Deutschland

SPIEGEL online
Steigende Altersarmut
22.10.2013

Kommentare (Auswahl):


Mittwoch, 1. Mai 2013

Psychoindustrie und Glückszwang


"Sentenced to drift far away now
Nothing is quite what it seems
Sometimes entangled in your own dreams.
Well, if we can help you we will
Soon as you're tired and ill.
With your consent
we can experiment further still."
Steve Hackett, Anthony Banks, Entangled, 1976




John Everett Millais, Ophelia, 1852, Tate Gallery, London
Die Imperative prasseln täglich nur so auf uns ein: Sei authentisch! Sei du selbst! Lebe deinen Traum! Höre auf deine innere Stimme, auf dein inneres Kind! Setze anderen Grenzen! Sei ein Teamplayer! Engagiere dich! Denk positiv! Sei achtsam! Sei entspannt! Lebe im Hier und Jetzt! Schau nicht zurück! Überall, in den Medien, in den Ratgeberseiten von Zeitschriften, in den Selbsthilfeforen, wimmelt es von widersprüchlichen Befehlen, nirgendwo gibt es ein Entrinnen. Und wenn wir uns mal erschöpft von all den Selbst- und Fremdansprüchen zurückziehen wollen, müssen wir auch dafür kräftig zahlen: im Wellness Hotel, im klösterlichen Retreat, im Urlaub.

Dienstag, 30. April 2013

Schreckgeweitete Augen



"So kann die Mehrheit einer Bevölkerung extrem selbstentfremdet und hochpathologisch leben, ohne dass das wahrgenommen wird, weil eben 'alle' so sind. Der eine hingegen, der authentisch lebt, sich selbst gut verwirklicht und Begrenzungen akzeptiert, die Realität erkennt und der Wahrheit nahe ist, wird abgelehnt, verfolgt und womöglich aus der Gemeinschaft entfernt."
Hans-Joachim Maaz, Die narzisstische Gesellschaft, S. 47/48



Es hat sich in den reichen Industriegesellschaften eine unheilige Arbeitsteilung etabliert: Die Macher beherrschen die Szene. Die Lauten, die "Ich bin ok! Ich bin toll!"-Typen, die Unreflektierten, also ausgerechnet diejenigen, die aufgrund ihrer Unreflektiertheit eigentlich inhaltlich nicht viel zu sagen haben, während den Stillen, Nachdenklichen die Rolle des dankbaren Publikums zugewiesen wird, das ihren Sprechblasen Beifall zollen soll. Auf kurzfristige Ergebnisse ausgelegtes, extravertiertes Risiko- und erfolgsorientiertes Verhalten dominieren, Immanenz, Hedonismus, Selbstverwirklichung, hemmungsloser Egoismus und Narzissmus.

Sonntag, 28. April 2013

Reif zur Übernahme I


"In Deutschland gilt derjenige als viel gefährlicher, der auf den Schmutz hinweist, als der, der ihn gemacht hat."
Carl von Ossietsky, 1889 – 1938, Journalist und Schriftsteller



Welle. Aquarell
Sommer 2011. Eine Szene aus einer Kleinstadt in einer strukturschwachen, sprich armen Region. In der Hauptgeschäftsstraße  - einer Einbahnstraße – hält ein weißes Benz Cabrio mit Ledersitzen auf der falschen Straßenseite – zum Parken hat die andere Straßenseite entsprechende Parkbuchten, einige davon sind noch frei -, direkt vor einer Fleischerei. Der Fahrer ist ein älterer Herr mit Halbglatze und Schiebermütze. Er hört bis zum Anschlag aufgedrehte deutsche Schlagermusik. Er steigt aus, geht die zehn Schritte ins Geschäft, kauft ein. Die ganze Zeit spielt die Musik auf voller Lautstärke. Nach dem Einkauf in der Schlachterei zockelt er im Schritttempo weiter die Hauptstraße hinunter.

In der Kuschelhöhle


"Walking in cities of stone, the shadows groan
Thousands of people but you're all alone
In your own little zone like a drone
Working in hives all your lives, bowing down to the throne
Born into the age of panic
Into an age of panic
Born into an age of panic
Into an age of panic"
Senser, Age of Panic, 1994



Abstrakt, Aquarell
Die Menschen sind heute so über alle Maßen orientierungslos und überfordert, dass sie scharenweise zum erstbesten, unzweideutigsten Nenner flüchten, an dem sie ihre Biografie, ihre Identität oder das, was sie dafür halten, festmachen können. Als da vor allem wären: das Geschlecht, die Staatszugehörigkeit, der Geburtsort, die Religionszugehörigkeit, der Geburtenjahrgang -  all diese in den meisten Fällen vollkommen kontingenten Fixpunkte sollen nun Sinn und Trost stiften inmitten einer als chaotisch und bedrohlich empfundenen Welt.

Vor allem die Flut der Sendungen und Veröffentlichungen zum Thema Geschlechterunterschiede oder die "Generationen-Bücher" - Generation Golf, Generation X,Generation 2.0., Generation Doof, Generation Praktikum, Generation Ally, und wie sie alle heißen - muss doch allmählich jedem auffallen, ebenso die Wiederkehr der Männerbünde und Burschenschaften, die Heimatseligkeit in den TV-Regionalprogrammen, der Lokalpatriotismus mit seinen Straßen-, Stadtteil- und Dorffesten, der Nationalismus hinter der Fassade des Fussballs, der zunehmende religiöse Fundamentalismus jeglicher Couleur.

Vor der Wahl ist nach der Wahl


Anlässlich der letzten Bundestagswahl 2009 habe ich eine Reihe von Recherchen betrieben, deren Ergebnisse ich aus Zeitmangel nicht rechtzeitig fertigstellen und in öffentlichen Online-Foren posten konnte. Inzwischen steht die nächste Bundestagswahl an und an der Situation hat sich in den letzen 4 Jahren nicht viel geändert. Nachstehend also die entsprechenden Auszüge zum Thema: Unternehmenssteuerreform 2008 und die Folgen

Donnerstag, 11. April 2013

Märchenstunde für Erwachsene


"Die Macht kann großen Einfluss haben auf die geistig Schwachen."
Obi-Wan Kenobi, in: Star Wars IV, 1977, Regie: George Lucas



Berge und Licht, Aquarell
Seit Jahrzehnten werden uns Glaubenssätze wie "Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt" (Google-Hits: 1.770.000, 19.10.2012) um die Ohren gehauen. Damit erteilen sich die Privilegierten selber Absolution, sprechen sich von jeglicher Mitverantwortung, von jeglicher Verpflichtung, von jeglicher Solidarität frei. Das Mantra der Eigenverantwortung ist selber ein Produkt des primitiven, monadischen, neoliberalen Menschenbildes: Hier das autonome, eigenverantwortliche Individuum, drumherum der Rest, d.h. die anderen autonomen, eigenverantwortlichen Individuen, ein Symptom der intellektuellen Unfähigkeit, Wechselwirkungen zu erkennen, der historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingtheit von Werten, von Verhaltensnormen. Es kann gar kein Ich, kein Selbst, keine Identität ohne soziale Interaktion, ohne Gesellschaft geben. Ein Dogma, das die Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft und die allgegenwärtige strukturelle Gewalt komplett ausblendet, negiert, ist die Legitimation für reale und perpetuierte Ungerechtigkeit und Grausamkeit, für Menschenrechtsverletzungen, für die Verweigerung von existentiellen Selbstbestimmungs- und Lebenschancen.

Dienstag, 26. März 2013

The Waste Land


"Denn die ganz Kleinen sind die Touristen von morgen."
Zitat aus einer NDR-Reportage über die Marketing-Aktivitäten der "Blütenkönigin" im Alten Land.



Moon Valley, Namibia
Bildung – angefangen von der frühkindlichen Erziehung im Elternhaus, in den Kindertagesstätten, über die Grund- und weiterführenden Schulen bis hin zur Berufsschule und höheren akademischen Ausbildung: In keinem anderen gesellschaftlichen Bereich sind die Fronten derart verhärtet, wird verbissener um jeden Zentimeter Deutungshoheit, um die Macht über die jungen Köpfe und Seelen, um die zukünftigen Gestalter, um den Erhalt der je eigenen ideologischen Ausrichtung gekämpft.

Das hat seinen guten Grund. Denn die Bedingungen und Veränderungen in diesem Bereich sind für jede Gesellschaftsform auch die wichtigsten, entscheidenden und nachhaltigsten. Die Erkenntnisse der Hirn- und Lernforschung jedenfalls legen nahe, dass keine andere Lebenspanne des Menschen so viele Entfaltungspotentiale parat hält wie die ersten 20 Lebensjahre. Gleichzeitig jedoch – das ist die vielfach verdrängte Schattenseite - gibt es keine andere Lebensphase, die so verletzlich ist, in der so viel kaputt gemacht und unwiderruflich zerstört werden kann, in der zu frühe und falsche Weichenstellungen für einen mittlerweile unsicheren, prekären Arbeitsmarkt so schwerwiegende und in der Regel nicht mehr korrigierbare Folgen haben.


Mobbinghochburg Deutschland


"Der Sündenbock als Opfer der Gründungsgewalt ist jedoch niemals lediglich ein Objekt des Hasses, sondern ebenso ein Geschöpf der Verehrung: Er sammelt den einmütigen Haß aller in sich auf, um die Gemeinschaft davon zu befreien. Er ist ein metabolisches Gefäß."
Botho Strauß, Anschwellender Bocksgesang, in: DER SPIEGEL 6/1993, 08.02.1993, S. 202-207



Sinkendes Schiff, Aquarell
Der Begriff "Mobbing" stammt ursprünglich aus der Zoologie. Der Verhaltensforscher  Konrad Lorenz beobachtete ein bestimmtes Verhalten von Gruppenangriffen bei Tieren, insbesondere bei Vögeln, das der Abwehr von Fressfeinden dient. Später wurde der Begriff auch im gruppenpsychologischen Kontext verwendet, wenn Gruppenmitglieder eine Einzelperson attackieren, die in irgendeiner Hinsicht von der Gruppennorm abweicht. Der Arbeitspsychologe Heinz Leymann übertrug die tierischen Verhaltensmuster auf Menschen, speziell im Arbeitsleben.

Mobbing ist aus dem englischen "to mob" abgeleitet und bedeutet belästigen, anpöbeln, über jemanden herfallen, angreifen, attackieren. Das deutsche Wort "Mob" hingegen bezeichnet eine gewaltbereite und gewalttätige Meute, ein Gesindel, einen Pöbel, eine Bande.

Es ist hilfreich, sich den Ursprung dieser Wortbedeutung vor Augen zu führen, wenn man sich mit dem Phänomen beschäftigt. Denn es zeigt sich, dass Menschen mitnichten den Tieren moralisch und intellektuell so weit überlegen sind, wie sie sich gern darstellen.

Mittwoch, 20. März 2013

"Das kann ich auch" - Über einen missachteten Berufsstand



"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt."
Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 1921, Satz 5.6




Grootberg, Namibia
Seit einigen Jahren muss ich folgende Beobachtung machen: Immer mehr Menschen sind nicht mehr in der Lage, den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Text zu erkennen. Das bedeutet für alle, die sich auf diesem Gebiet beruflich betätigen - Redakteure, Journalisten, Werbetexter, Lektoren, Autoren - eine schleichende Entwertung ihrer Arbeit, und das nicht nur materiell. Immer mehr Menschen fühlen sich inzwischen berufen, ihnen in ihr Handwerk zu pfuschen, offenbar in der unumstößlichen Überzeugung "Das kann ich auch, das ist doch nichts Besonderes. Lesen und Schreiben lernt man doch schon in der Schule." Verständlicherweise besteht eine große Abneigung, den Textmenschen für ihre Arbeit auch noch Geld zu zahlen, für eine Arbeit nämlich, die in den Augen vieler erstens als zweitrangig angesehen wird ("Wer liest denn heute überhaupt noch?") und zweitens potentiell als Arbeit, für man keinerlei spezielle Ausbildung benötigt.