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Samstag, 25. Mai 2013

Reif zur Übernahme II


"If liberty means anything at all it means the right to tell people what they do not want to hear."
George Orwell, aus dem zensierten Vorwort von "Animal Farm, 1945



Herbst
Diederich Heßling ist wieder da. Nein, ich muss mich korrigieren: Er war nie weg gewesen. Nur eine Weile untergetaucht, das muss so zwischen 1963 und 1974 gewesen sein., vielleicht hat er auch sicherheitshalber bis zum Mauerfall 1989 gewartet, um ganz sicher zu sein, dass die Luft jetzt rein ist.

Am 10.12.2012 berichtete der NDR über den Immobilienmarkt auf Sylt. Hier stehen Luxusvillen im Wert von mehreren Millionen leer, dienen als reine Spekulationsobjekte, während gleichzeitig Saisonarbeiter und Einheimische in überteuerten Mietwohnungen oder auf dem Campingplatz oder gleich auf dem Festland wohnen müssen. Reiche Neu-Sylter beschäftigen Einheimische als Gärtner, Wachmänner und Putzkräfte. Die Dörfer sind nachts ausgestorben, nachbarschaftliche Strukturen zerstört. Schulen schließen, Vereine trocknen aus. Ein privates Elite-Internat ist geplant. Eine Einheimische kommentiert die Situation mit den Worten: "Es ist fast nicht menschlich, was hier passiert". Sylt ist überall, Sylt ist Deutschland im Kleinformat.

In einem Forumsbeitrag las ich folgendes:
"Was ich befremdlich finde ist diese ungenierte, offen gezeigte Lust daran, Leute im reichsten Land Nordeuropas wie in der dritten Welt leben sehen zu wollen? Was gibt einem das? Warum ist einem das nicht mehr peinlich?"

Warum? Es ist purer dumpfdeutscher obrigkeitshöriger Sadismus. Die schiere Lust am Treten nach unten. Das sich Aufgeilen am Elend anderer. Zumindest solange, bis man selber unten ist. An den Befunden des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in den "Studien über Autorität und Familie" und der "Authoritarian Personality" (letzteres wurde nie vollständig ins Deutsche übersetzt) - hat sich trotz Globalisierung, trotz offener Grenzen in Europa, trotz internationaler Ausrichtung als Exportnation nichts geändert.

In der NDR-Nordsee-Reportage am 27.08.2012 wird uns ein 2-Meter-Sicherheitsmann mit Spitznamen "Mücke"  vorgestellt: der abschreckende Prototyp des dumpf-hässlichen Deutschen, des autoritären Sozialcharakters, immer auf der Suche nach Menschen, denen er eine Verfehlung, einen Regelverstoß unter die Nase reiben, gierig nach Gelegenheiten, bei denen er primitive Muskelkraft einsetzen kann. Unsäglich.

Bereits Immanuel Kant stellte unter seinen Landsleuten einen Hang zur Aufwertung durch Titel fest, ein starres Denken in Hierarchien und Rangordnungen. Inzwischen ist den Deutschen kaum noch etwas peinlich genug, um sich zu profilieren und von der tumben Masse abzuheben. So werden dann eben Titel wie Honorarkonsul und Ehrendoktorwürde einfach gekauft oder Ghostwriter engagiert.


Daten zur Lage der Nation


20 Prozent der Deutschen sind latent antisemitisch.

Jeder vierte Deutsche ist ausländerfeindlich.

7,5 Millionen Deutsche können nicht lesen und schreiben.


Jeder sechste Deutsche liest auf dem Niveau eines Zehnjährigen
"Deutschlands größte Schwäche ist jedoch - wieder einmal - die Chancenungerechtigkeit. In kaum einem anderen Land hängt die Lesekompetenz so sehr vom Bildungsstand der Eltern ab wie hierzulande: (...) Nur in den USA ist dieser Abstand noch größer."
Fast jeder vierte deutsche Angestellte hat innerlich den Job gekündigt.


Kürzlich ergab eine Umfrage, dass mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen in Deutschland auch krank zur Arbeit kommt. 

Deutschland ist drittgrößter Waffenexporteur der Welt.

Jede zweite Brücke in deutschen Kommunen ist marode.

Jeder vierte Deutsche nimmt Drogen.

Mehr als einer von fünf Männern und jede zehnte Frau in Deutschland betrinken sich nach eigenen Aussagen mindestens jeden Monat einmal. Bei den jungen Männern trinkt sogar fast jeder zweite riskant viel, bei den jungen Frauen jede dritte.

Nur 2,1 Prozent der deutschen Arbeitnehmer sprechen verhandlungssicher englisch.

137.000 Deutsche sind nicht krankenversichert.

Über die Zahl der Obdachlosen in Deutschland gibt es nur Schätzwerte: ca. 250.000, 300.000, 860.000, man weiß es nicht genau.
"Während die USA und die meisten europäischen Staaten die Zahlen jährlich offiziell bekannt geben, wo sie ebenso jährlich einen Aufschrei der Empörung auslösen, weigert sich die deutsche Regierung seit Jahrzehnten, einen entsprechenden gesetzlichen Auftrag an das Bundesamt für Statistik zu geben. So sind wir auf Schätzungen angewiesen." (ZEIT online, "Armut: Gibt es echte Obdachlosigkeit in Deutschland?", 20.11.2012)
Die Todesfälle infolge von multiresistenten Krankenhauskeimen sind höher als alle Verkehrstoten zusammen. Einer der Gründe dafür: Private Kliniken outsourcen ihre Reinigung an Fremdfirmen mit völlig unrealistischen zeitlichen Vorgaben für den zu benötigenden Reinigungsaufwand. Die Verantwortung für die Krankenhauskeime wird damit ebenfalls outgesourct.
"Jeder sechste Deutsche äußert Sympathie für Anthroposophie und Theosophie, jeder vierte zeigt sich aufgeschlossen gegenüber Wunder- und Geistheilern, gut 40 Prozent der Bevölkerung halten etwas von Astrologie oder New Age – Westdeutsche jeweils mehr als Ostdeutsche."
(Die ZEIT, "Esoterik: Was suchen die da?", 16.05.2013)
Etwa vier Millionen Deutsche leiden an einer behandlungsbedürftigen Depression. Experten gehen unter Miteinbeziehung leichterer Krankheitsverläufe von ca. 8 Millionen Betroffenen aus. Jährlich begehen ca. 11.000 Menschen in Deutschland Suizid aufgrund einer Depression.

Laut einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gehört Diskriminierung an deutschen Schulen und Universitäten zum Alltag.

Pro Jahr leidet laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts jeder dritte Deutsche an einer psychischen Störung, häufigste Diagnose: Depressionen und Angsterkrankungen.

Jeder fünfte deutsche Erwachsene erlebt psychische Gewalt – Mobbing, Schikanen, Drohungen.


Fast jeder vierte Deutsche verdient nur einen Niedriglohn.
"22,2 Prozent aller Beschäftigten mussten nach der aktuellsten europäischen Lohnstrukturerhebung im Jahr 2010 mit einem Niedriglohn auskommen.
Jeder Fünfte erhielt den verfügbaren Daten aus dem Jahr 2010 zufolge sogar weniger als 8,50 Euro. Die Folge: Viele dieser Löhne müssen aufgestockt werden."
By the way: In welcher Blase lebt dieser  Forsa-Chef? Welche Pillen muss man schlucken, um knapp ein Viertel als "nur wenige Menschen" zu bezeichnen:
"So ähnlich ist das übrigens mit dem Mindestlohn. Der betrifft nur wenige Menschen und ist den meisten daher ziemlich egal."(ZEIT online, "Koalitionsverhandlungen: "Die Grünen sind machtversessen", 05.10.2013)
Jeder fünfte deutsche Erwachsene erlebt psychische Gewalt in Form von Mobbing, Schikanen, Drohungen.

Gewalt gehört einer Studie zufolge für knapp ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland zum Alltag.

In deutschen Schulen haben seit 1999 elf Amokläufe stattgefunden. Mehr Fälle gibt es bisher nur in den USA.

Etwa hundert Kinder pro Jahr, die meisten unter vier Jahre, werden in Deutschland zu Tode misshandelt – das ist die offizielle Zahl.
"4168 Misshandlungs- und Vernachlässigungsfälle von Kindern wurden 2003 in Deutschland polizeilich bekannt, doch die Behörden sind sicher, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist. Die Dunkelziffer soll über 90 Prozent ausmachen."
Jeder vierte Haushalt in Deutschland verzichtet nach eigenen Angaben aus finanziellen Gründen auf eine Urlaubsreise.

Ein Fünftel der deutschen Bevölkerung ist arm. Das sind ca. 16 Millionen Menschen. Armut ist auch ein Weg, um Menschen an einer Abwanderung zu hindern. Armut macht krank, Arme und Kranke sind zur Passivität, zur Immobilität verdammt. Arme sterben früher. Hier wird ein Heer an Abhängigen produziert. Die Schwachen werden unten gehalten, so wie man Ertrinkende langsam unter Wasser drückt, nur zu dem Zweck, damit die, die aufgrund ererbter, geschenkter Vermögen und glücklichen Fügungen (die sie sich natürlich als Eigenleistung zuschreiben) oder informellen Karriere-Netzwerken oben schwimmen, auch oben bleiben können. Dass es keinen Aufschrei der Empörung gibt, liegt daran, dass der Vorgang sich in Zeitlupe abspielt.

In meinem hiesigen Anzeigenblatt gibt es die Rubrik "Lebensräume". Hier zitiere ich zwei Anzeigen, die stellvertretend das ganze Elend dieser Republik beleuchten:
"Großfamilie sucht großes Haus, Resthof mit Nebengebäuden oder Landvilla zu kaufen. Mit großem Garten und Grundstück gerne Gebiete Ostheide oder Elbtalaue."
(das fehlende Komma im Originaltext ist so belassen worden).
"Frau bietet Mitarbeit in Öko-Landwirtschaft, ländlicher Hauswirtschaft, Kinderbetreuung, Altenbetreuung. Kost & Logis, keine Kurzzeitjobs!"
Die einen rüsten auf für den Ernstfall  - hysterische Besitzstandswahrung aus Angst vor dem kompletten Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, Gegenmittel: Autarkie, Selbstversorgung, Wagenburg -, die anderen haben nur noch Leib und Leben anzubieten.  Arbeiten gegen Unterkunft und Verpflegung. Der Feudalstaat ist längst Realität.

Ein Tempolimit ist in fast allen anderen Ländern Normalität, in Deutschland, einem Transitland, ein Fetisch. Je stärker die bürgerlichen Freiheiten beschnitten werden, desto verzweifelter und trotziger klammert man sich an eine längst ad absurdum geführte Ideologie. Ohne Auto ist man in Deutschland kein Mensch.

Klingt das alles nach einem Land, das optimistisch und hoffnungsvoll in die Zukunft blickt, mit zufriedenen Bürgern, die für sich und ihre Kinder ausreichende Lebensperspektiven sehen? Nein, es klingt nach einem Land in kollektiver Angststarre, mit einer Wirtschaft im freien Fall, mit einer hochgradig frust- und aggressionsgeladenen Bevölkerung, die sich in Abwehr einmauert.

Nicht systemrelevant


Was sagen Politiker einem Hochschulabsolventen, dem jahrelang eingetrichtert wurde: "Bildung zahlt sich aus", Studium in Regelzeit, Prädikatsexamen, Auslandssemester, 2 Fremdsprachen fließend, und mit 30 Jahren noch zu Hause wohnen muss, weil er keine feste Anstellung findet? Oder einem Schulabgänger mit einem guten Hauptschulabschluss, der auch noch nach 1 Jahr keinen Ausbildungsplatz in Industrie oder Handwerk gefunden hat? Was sagt man dem braven Steuerbürger, der aus Sicht des Staates alles "richtig" gemacht hat: Familie gegründet, 2,3 Kinder im statistischen Mittel, denen man eine gute Ausbildung finanzieren kann, Häusle gekauft, Vater Vollzeit, Mutter halbtags. Hohe Konsum- und Abgabenquote. Die typische Mittelschichtfamilie. Dann wird dem Mann nach 25 Berufsjahren gekündigt, wegen Rationalisierungsmaßnahmen oder weil er mit Ende 40 ein gewisses Alter erreicht hat, vielleicht war er im Vorjahr auch einen Tag zuviel krank. Gründe finden sich immer. Auch wenn seine Frau jetzt Vollzeit arbeitet, kann sie allein das nicht ausgleichen. Und nach einem Jahr ALG I wird er in Hartz4 landen, dann ist das Ersparte weg, die Lebensversicherung vorzeitig gekündigt, das Haus verkauft. Und die Kinder müssen selber zusehen, wie sie ihr Studium finanzieren. Oder abbrechen. Wer gestern noch zu den Stützen der Gesellschaft gezählt hat, kann sich morgen bei den Systemverlierern finden. Oder nehmen wir jemanden, der sein Erspartes in Aktien ("Volksaktie" Telekom, Lehmann) investiert hat, weil der Staat ihm eingebläut hat: "Die staatliche Rente reicht nicht, ihr müsst selber vorsorgen."

Was soll man diesen Menschen sagen? Pech gehabt, Sie sind nicht systemrelevant? So funktioniert nun mal der Markt? Das ist das Gesetz von Nachfrage und Angebot? Zur falschen Zeit am falschen Ort? Sicher: Irgendein Job lässt sich finden, irgendwie geht es immer weiter. Aber auf diesem "Irgendwie" kann kein Mensch eine Familie gründen und zuversichtlich und vertrauensvoll in die Zukunft blicken, so wie es etwa die vorangegangene Generation noch konnte. Das Vertrauen ist weg. Immer mehr Menschen, und zwar inzwischen wohl in jeder Altersgruppe, sehen bei dem Wort Zukunft nur noch ein schwarzes Loch.

Vergessen wir die Reichen nicht. Ein Adolf Merckle, der sich vor den Zug wirft, ist auf seine eigene tragische Weise auch Opfer des Systems. Ein Alleinerbe eines millionenschweren Familienvermögens, und, so es der Familienrat beschlossen hat, zukünftiger Unternehmenslenker steht unter einem Erfolgsdruck, den sich ein Normalbürger überhaupt nicht vorstellen kann Und es wird auch in diesen Kreisen sicher die eine oder andere Zwangsehe geben. Das ganze eigene Leben wird unter den Zwang der Optimierung des Familienkapitalstocks gestellt. Diese Leute können schwer aussteigen, wenn ihnen diese Zwangsjacke nicht mehr passt, weil sich ihre Identität, ihr Selbstwertgefühl von Kindheit an nur auf ihren Reichtum gründet. Kaum einer, der von Geburt an reich ist, wird je von sich sagen können: Das habe ich ganz allein geschafft, ohne fremde Hilfe, ohne gute Beziehungen, ohne finanziellen Rückhalt, gegen alle Widerstände. Reiche müssen erst unheilbar erkranken oder mit dem Privatjet in eine Einöde abseits aller Zivilisation abstürzen, bevor sie merken, dass das Aktiendepot nicht das Wichtigste im Leben ist. Was Menschen brauchen, ist Liebe, Respekt für ihr je so-und-nicht-anders sein, gesellschaftliche Anerkennung für ihre Arbeit, einen Lebenssinn. Reiche leben in dem Wahn, sich diese Dinge kaufen zu können. Neid? Auf so ein Leben kann man nur dann neidisch sein, wenn man den Fehler macht, die eigenen bürgerlichen Werte und Tugenden auf diese Oberschicht zu projizieren. Denn diese Leute ticken komplett anders, sie leiden, von Kindesbeinen an konditioniert, an einer Art schichtspezifischer Neurose. Russische Millionäre spielen einen Tag inkognito Bettler oder Straßenmusikant, um ihrem drögen Luxusleben ein bisschen Spannung abzuringen und oder zumindest die Illusion davon. Ererbter Reichtum ist wie die Option auf lebenslangen Urlaub. Klingt toll, erweist sich aber in der Realität als fast unerträglich.

Schulen verrotten und werden von Eltern und Lehrern renoviert, ein Routine-Krankenhausaufenthalt kann für einen Kassenpatienten wegen unzureichender medizinischer Versorgung und multiresistenten Keimen lebensgefährlich werden, Privatverbraucher werden beim Dauerkampf gegen die allgegenwärtige Abzocke allein gelassen (Bankgebühren, Kreditzinsen, Energiepreise, Lebensmittel, Telekommunikation, Medikamentenpreise, Versicherungen), während gleichzeitig Konzerne und Banken gepampert werden, wo es nur geht. Marktwirtschaft, ja klar, aber nur für die Kleinen, und Marktbereinigung bedeutet für die dann eben Firmen- und Privatinsolvenz. Für die Großen dagegen darf es gern mal ein bisschen Sozialismus sein, spätestens dann, wenn bei denen die Hütte brennt.
Die Missstände in Deutschland vor allem in den Bereichen Gesundheitswesen, Ausbildung, Arbeitsmarkt, Steuergerechtigkeit sind nicht vom Himmel gefallen, sondern hausgemacht. Sie sind das Ergebnis jahrzehntelanger kurzsichtiger und einseitiger Klientel-Politik. Es ist im Übrigen auch dieses massive Gerechtigkeitsdefizit, das Menschen aus diesem Land forttreibt, nicht die Steuern und Abgaben, und auch nicht die Migranten.

Das gesellschaftliche Klima ist unwiderruflich vergiftet. Point of no return. Man kann eben nicht über mehrere Jahre hinweg sozialstaatliche Errungenschaften Stück für Stück abschleifen und Grundbedürfnisse des Menschen - Sicherheit, Planbarkeit des Lebens, Vertrauen in die Zukunft, in die Solidargemeinschaft und darauf, dass sich Ausbildung und harte Arbeit irgendwann auszahlen, zumindest für die Kinder -  sozialdarwinistischen Marktgesetzen überlassen, ohne dass der Gesellschaft als Ganzes die Auswirkungen dieser Politik irgendwann auf die Füße fallen. Menschen sind keine lebenden Festplatten, die man mit INSM-Medienkampagnen und lebenslanger Konditionierung durch sämtliche gesellschaftliche Institutionen hindurch (Familie, Schule, Beruf, Öffentlichkeit) zu marktkompatiblen Leistungsträgern umprogrammieren kann.

Wir haben in den letzten Jahren immer wieder Berechnungen über gesellschaftliche Kosten von bestimmten Bevölkerungsgruppen (Rentner, Arbeitslose, chronisch Kranke, Migranten) lesen müssen, etwa Bevölkerungsprognosen des Statistischen Bundesamtes, in denen der zu erwartende volkswirtschaftliche Wert oder Unwert von Bürgern dieses Landes berechnet wird. Für die einen dient diese Berechnung als Argumentationshilfe, dass sich Einwanderung volkswirtschaftlich "lohnt", sprich dass unterm Strich mehr rauskommt als investiert wurde, für die anderen als Beleg dafür, der zügellosen "Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme" einen Riegel vorzuschieben. Es geht mir hier nicht um eine Festlegung in die eine oder andere Richtung, weil diese bornierte Entweder-oder-Haltung von vornherein völlig verfehlt ist. Wer sich jedoch über das Menschenbild, das diesen Berechnungen zugrunde liegt, nicht mehr empören kann, hat offenbar bereits den letzten Rest seiner Würde verloren. Ich warte jetzt noch auf das Geschäftsmodell, das den Geldwert jedes menschlichen Lebens von Geburt an fortlaufend durch behördliche, zwangsverordnete medizinische Untersuchungen und durch Konsumdatenabgleich berechnet und als Spekulationsobjekt an der Börse anbietet, auf der Grundlage folgender Parameter: Genetische Vorbelastung durch Erbkrankheiten, Persönlichkeitstypus ("Big Five"), Familienstatus und Familienvermögen, soziales Kapital (Kontakte), Gehirnleistungskapazität, medizinischer Status als Berechnungsgrundlage für die Organentnahme nach dem Tod. Bei der derzeit herrschenden um sich greifenden esoterischen Verblödung kommt vielleicht noch ein Geburtshoroskop hinzu. Diejenigen, deren Lebenswert unter einem willkürlich festgelegten Schwellenwert rutscht, werden unverzüglich als nutzloser Kostenfaktor eliminiert. Ich warte darauf, dass sich auf ebay Menschen, neudeutsch: human resources zur Versteigerung anbieten oder sich selbst von einem darauf spezialisierten Power-Seller (mit ebay-trust-Zertifikat, selbstverständlich) versteigern lassen. Wir denken immer noch, dass Irrsinn irgendwo eine Grenze hat. Die Yes Men hatten sich in einer ihrer subversiven Aktionen vor einer Gruppe von Investoren als innovatives Unternehmen präsentiert, das sterbliche Überreste von Leichen zu Kerzen verarbeitet. Man hat ihnen interessiert bis zum Ende des Vortrags zugehört.

Negativ-Auslese


Das Leben hat sich nach ökonomischen Maßstäben auszurichten. Die Industrieländer haben dieses Denken komplett verinnerlicht. Der Lebenswert eines menschliches Wesens, das in unsere Gesellschaft hineingeboren wird, wird - als ob dies das Normalste von der Welt wäre – nach seinem monetären Nutzwert berechnet: nach dem, was es während der Ausbildung und im Ruhestand und in Zeiten von Arbeitslosigkeit und Krankheit kostet und was es zum Ausgleich als Erwerbstätiger in das System einzahlt. Und entweder befindet man sich dann auf der Haben- oder auf der Sollseite.

Dies ist das Ergebnis eines technokratisch-ökonomischen Menschenbildes, als Folge der jahrzehntelangen Gehirnwäsche, als Folge auch der geistigen Inzucht, des Nepotismus. Die technokratische Expertenkultur ist angemessen auf Gebieten, die es mit Maschinen zu tun haben, bei Ingenieuren. Auf Gebieten wie Bildung oder Gesundheit führt sie zu Katastrophen. Reformprojekte werden von oben per Dekret von Bürokraten als Erfüllungsgehilfen der Konzernlobbys durchgesetzt, mit Langzeitfolgen, die offensichtlich keiner durchdacht hat. Das hält man offenbar nicht für nötig. Man regiert in abgeschotteten Zirkeln, mit Beratern, die einem genau das sagen, was man hören will, denn dafür werden sie bezahlt. Menschen, die sich durch Integrität, Unbestechlichkeit, Kritikfähigkeit, Dialog- und Lernbereitschaft auszeichnen, sind in der politischen Sphäre nicht existent. Dieser Typus wurde während der letzten 30 Jahre erfolgreich ausgemerzt. Lang lebe Diederich Heßling.

Im öffentlichen Raum, in den Internetforen zeigen sich mittlerweile Stresssymptome wie in einem überfüllten Hühnerstall: Menschen hacken hemmungslos aufeinander herum. In den Threads zum Thema Wohnungsnot in Ballungsräumen: Familien und Arbeitnehmer auf Wohnungssuche hacken auf Studenten herum ("die Studenten nehmen den Familien den Wohnraum weg!") . In den Threads zum Thema Rente: Eltern hacken auf Kinderlose herum ("Streicht die Rente für Kinderlose!"). In den Threads zum Thema Frauenquote geifern abgehängte Männer hasserfüllt gegen Frauen. In den Threads zum Thema Hartz4: Studenten hacken auf Harzt4-Empfängern herum ("Ich hatte während meines Studiums noch viel weniger Geld zur Verfügung!") . Opfer hetzen gegen Opfer. Vom Gehacke auf Migranten will ich gar nicht erst reden.

Jeder Mensch kann nur bis zu einem bestimmten Punkt verdrängen. Mir kommt das Ganze inzwischen vor wie ein Laborexperiment am lebenden Objekt. Wie schnell schafft es eine inkompetente, blind von Wahl zu Wahl stolpernde, verantwortungslose Kaste von Parteien im Schulterschluss mit einer durchgeknallten, korrupten Geldmafia, eine einstmals gesunde Volkswirtschaft komplett zu ruinieren und auf das Niveau eines mittelalterlichen Feudalstaates zurückzukatapultieren?

Das ganze Leben wird in ein Netz aus Vorschriften gezwängt, die alle gesamtgesellschaftlich relevant sind und nicht von mir selber entschieden werden dürfen. Denn das wäre ja egoistisch. Auf der Arbeit muss ich egoistisch sein, im Privatleben darf ich es nicht. Double-bind. Die Regulierungswut, der Bevormundungs- und Kontrollwahn kennt keine Grenzen mehr. Darf ich ein behindertes Kind zur Welt bringen? Darf ich überhaupt Kinder in die Welt setzen, wenn ich keinen festen Job habe, und wenn ja, wie viele? Darf ich kinderlos bleiben? Darf ich mein Kind zuhause erziehen? Muss ich meine Organe spenden? Darf ich rauchen und wie oft darf ich in der Woche Fleisch essen? In Wirklichkeit geht es darum, jedes menschliche Leben einer ökonomischen Verwertungsideologie zuzuführen und es bilanzieren zu können.

Systemfehler


1957 war ein bedeutsames Jahr für die deutschen Sozialsysteme. Die Regierung Adenauer hat vor über einem halben Jahrhundert das sogenannte Rentenneuregelungsgesetz beschlossen, mit dem die Renten an das Erwerbseinkommen gekoppelt wurden. Damit hat Adenauer auch die absolute Mehrheit für die CDU eingefahren. Gabor Steingart z.B. nennt es im SPIEGEL-Special Beitrag vom 26.04.2005 den deutschen Defekt, in seinem Buch "Abstieg eines Superstars" spricht er gar von Jahrhundertirrtum. Zu Adenauers Wahlkampfzeiten gab es
- fortdauerndes Wirtschaftswachstum
- Vollbeschäftigung
- eine ausreichende Geburtenrate

Für die Wirtschaftswunderjahre mögen diese Voraussetzungen für einen funktionierenden Generationenvertrag noch gegolten haben, für die Folgejahre nicht mehr. Es gab auch damals schon Mahner, die den Fehler dieses Systems vorausgesehen haben, sie wurden ignoriert. Jede Gehaltsabrechnung, jeder Steuerbescheid zeigt: Der Sozialstaat wird heute von keiner einzigen dieser drei Säulen mehr getragen. Die Arbeitnehmer in Deutschland sind nach wie vor die "Lastesel der Nation", wie der SPIEGEL bereits 2003 titelte. Zwischendurch haben wir auch noch ganz nebenbei die deutsche Einheit zu finanzieren. Den "Soli" gibt es immer noch. Und bis heute hat es keine Bundesregierung geschafft, diesen Riesen-Systemfehler grundlegend zu korrigieren. Ein bisschen Agenda 2010, ein bisschen Pflegeversicherung, und Riester, hier und da mal an ein paar Prozentpunkten geschraubt, das war's. Aber von Talkshow-süchtigen Politikern, die nicht weiter denken können als von Wahl zu Wahl, darf man wohl nichts anderes erwarten.

Arbeitslose werden arbeitslos gehalten, weil sonst die Löhne steigen müssten. Alte werden rausgemobbt und abgedrängt, weil sie zu anspruchsvoll und zu unbequem sind. Jüngere werden mit leeren Karriereversprechen gelockt und dann in Dauer-Praktika hängen gelassen. Die Anforderungen an die Jobs werden gezielt in unerfüllbare Höhen geschraubt. Billige Arbeitskräfte werden aus dem Ausland geholt, damit man die hiesigen Arbeitslosen als Arbeitskraftreserve, als Bodensatz und Drohkulisse missbrauchen und Niedriglöhne weiter nach unten schrauben kann. Die Medizin- und Pharmabranche verdient sich an der steigenden Zahl der Alten und Pflegebedürftigen dumm und dämlich, indem sie die solidarischen Kassen ausbeutet und Menschen gezielt als behandlungsbedürftig erklärt (Manipulation von Forschungsergebnissen und Grenzwerten, Erfindung neuer Krankheitsbilder, vor allem psychischer Art). Die Versicherten zahlen immer mehr für immer weniger Leistungen, während die Gewinne bei den Versicherungskonzernen explodieren. Jetzt, wo die Politik als Erfüllungsgehilfe der Konzerne den Karren in den Dreck gefahren hat, und weil die Beamten jetzt Angst bekommen, dass später nicht mehr genug Beitragszahler vorhanden sind, die ihre überdimensionierten Pensionen zahlen, jetzt wird von den Bürgern verlangt, bis zum physischen Lebensende durchzuarbeiten, damit sie möglichst schnell ausbrennen und möglichst früh sterben. Die Renten wurden in den letzten Jahren gezielt gekürzt, ebenso wie die Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld, weil sie an die Reallohnentwicklung gekoppelt sind, und die ist seit Einführung des Euro rückläufig. Die finanzielle Repression ist bereits Realität. Dazu passt die permanente Einforderung von ehrenamtlicher Arbeit, etwas, das es in diesem Ausmaß früher nicht gab, wird den Bürgern nun sozusagen als Verpflichtung auferlegt, weil der Staat selber finanziell ausgeblutet ist und seine genuinen Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Klar ist auch, dass die Sterbehilfe wieder gesellschaftsfähig wird. Sozial verträgliches Frühableben. Das menschliche Leben ist vollständig der volkswirtschaftlichen Verwertungslogik unterworfen. Der Wert menschlichen Lebens wird durch seine Arbeitsleistung definiert, dies gilt für die Lohnbezieher, oder durch seine Konsumkraft, dies gilt für die Vermögenden, die von Kapitaleinkünften leben und von der ungerechten Steuergesetzgebung profitieren. Der Irrwitz daran ist: Je weniger angemessen entlohnte Arbeit es in Deutschland gibt und je geringer die Rendite aus menschlicher Arbeit, umso lauter und hysterischer wird das hohe Lied der Arbeit um jeden Preis gesungen, Hauptsache irgendeine Arbeit, als gar keine Arbeit. Wir kennen diese Ideologie bereits von irgendwo her. Sozial ist, wer Arbeit schafft.

Selbstbetrug


Wo soll in Deutschland das Potential für Veränderungen herkommen? Rentner und Pensionäre halten die Klappe, die werden sich hüten, aufzumucken, sie wissen genau, dass sie zu den letzten gehören, die von ihrem Ruhegeld noch leben können. Sie stellen auch demnächst die Wählermehrheit. Sie wählen jeden, der ihren Besitzstand bewahren hilft, koste es was es wolle. Die Jungen sind zahlenmäßig zu vernachlässigen. Die Unterschicht ist zu resigniert oder zu verblödet, um sich zu organisieren und hat kein Erpressungspotential, da sie weder in den Konsum- noch in den Arbeitsstreik treten kann. Von der Seite der Abgehängten wird nie ein Impuls für Veränderung kommen. Paradoxerweise sind es ja gerade die Arbeitslosen, die ausreichend Zeit und Muße hätten, um über dieses und jenes nachzudenken und sich abseits der Verblödungsmaschine zu informieren und daraufhin womöglich die gefürchtete Systemfrage stellen. Die anderen, die (noch) Berufstätigen im Hamsterrad haben ja eigentlich nur noch während eines dreiwöchigen Urlaubs die Chance dazu. Nur deshalb müssen die Arbeitslosen so schell wie möglich psychisch gebrochen werden. Ein Störfaktor weniger. Und die Politik knöpft die Finanzierung der Abgehängten und die Subventionierung der Vermögenden vor allem denen ab, die sich am wenigsten dagegen wehren können, die Menschen mit den eher immobilen Lebensentwürfen, die sich etwas aufbauen wollen oder bereits aufgebaut haben: die Familien, die Lohnabhängigen und kleinen Gewerbetreibenden. Die Oberschicht lebt grundsätzlich im inneren und äußeren Exil, die immer weiter ausgedünnte Mittelschicht läuft weiter der Karotte hinterher, die man ihr vor die Nase hält. Noch wähnt sie sich in völliger Verleugnung der Realität auf der Siegerseite, buckelt und biedert sich denen da oben weiter an, solidarisiert sich mit ihnen, hackt weiter auf die da unten ein. Schließt weiter Versicherungs- und Kreditverträge ab, vertraut weiter auf die Riesterrente und auf das eigene Häuschen als Sicherheit im Alter, merkt gar nicht, dass auch über sie schon längst entschieden worden ist.
"Der Selbstbetrug wird der Mittelschicht leicht gemacht. Die Reichen verschleiern ihren Wohlstand derart gekonnt, dass völlig unklar ist, wie reich sie wirklich sind. Fest steht nur, dass Billionen aus der Statistik verschwinden. Der Grund: Das Statistische Bundesamt erfasst keine Einkommen über 18.000 Euro netto im Monat - die wirklich Reichen tauchen in den offiziellen Zahlen also gar nicht auf.Die Mittelschicht überschätzt ihren Status aber auch, weil sie viel Kraft und Aufmerksamkeit darauf verwendet, sich vehement von der Unterschicht abzugrenzen. Nur zu gern pflegt die Mittelschicht das Vorurteil, dass die Armen Schmarotzer seien. So meinen immerhin 57 Prozent der Bundesbürger, dass sich Langzeitarbeitslose "ein schönes Leben auf Kosten der Gesellschaft machen". Aus dieser Verachtung für die Unterschicht entsteht eine fatale Allianz: Die Mittelschicht wähnt sich an der Seite der Elite, weil sie meint, dass man gemeinsam von perfiden Armen ausgebeutet werde." (SPIEGEL online: Ulrike Herrmann, "Soziale Gerechtigkeit: Die Mittelschicht betrügt sich selbst", 08.04.2010)
Wie erkennt man die wahren Leistungsträger? Wenn sie fehlen. Ein aufschlussreicher Test wäre es, wenn hier in Deutschland bestimmte Berufsgruppen streiken würden, eine Woche lang. Das würde schon reichen. Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, auch Polizisten, Feuerwehrleute, Speditionsfahrer, Fluglotsen, Stellwerksleiter,Hafenarbeiter, Müllwerker, Elektriker, Gas- und Wasserinstallateure, Lokführer, Gebäudereiniger, Erntehelfer, und man könnte bestimmt noch Dutzende Berufsgruppen mehr aufzählen. Man kann jetzt schon sagen, dass es im Testzeitraum sehr viele Todesfälle zu verzeichnen gäbe.

Zum Vergleich sollen dann die selbsternannten Eliten eine Woche lang streiken: Alle sogenannten Führungskräfte dieser Republik. Bankdirektoren, Manager, Verwaltungsbeamte, Aufsichtsräte, Politiker, von mir aus die gesamte parasitäre Dienstleistungsbranche, Versicherungen, Marketing, Werbung, auch die Medien. Und danach darf das Volk abstimmen, welche Woche schlimmer war.

In diesem Zusammenhang für mich persönlich unvergessen bleibt der Vorschlag des Vorsitzenden des Studentenverbands RCDS Ludewig, ein doppeltes Stimmrecht für "Leistungsträger" einzuführen, was zwangsläufig darauf hinaus laufen würde, das Wahlrecht für Rentner und Arbeitslose einzuschränken.
"Das Papier trägt den Titel "Drei Thesen zur Stärkung der Leistungsträger". Ludewig fordert darin: "Diejenigen, die den deutschen Wohlfahrtsstaat finanzieren und stützen, müssen in diesem Land wieder mehr Einfluss bekommen. Die Lösung könnte ein doppeltes Wahl- und Stimmrecht sein." Allein mit "Hartz IV-Beziehern und Rentnern" könne der soziale Ausgleich in Deutschland nicht funktionieren." (SPIEGEL online, "Absurder Vorstoß: CDU-Verbands-Chef will Rentner zu Wählern zweiter Klasse degradieren", 23.05.2008)
Ludewig wurde zwar vorerst zurückgepfiffen – aber der Gedanke ist jetzt "in der Welt", wie man so sagt, und der Satz im letzten Absatz des Artikels "Zwar teile die FDP die Sorge, dass dieses Land politisch nach links rutscht. 'Entmündigung der Wähler ist aber die falsche Antwort' (...)" ist auch mehr als entlarvend. Was wäre denn die richtige Antwort? Die Parteineugründung "Alternative für Deutschland" soll mittlerweile ähnliche Vorschläge zur Reform des Wahlrechts geäußert haben.

Stockholm-Syndrom


Was ist hier los? Leidet ein ganzes Land unter dem Stockholm-Syndrom? Love it, change it or leave it?  Was man nicht ändern kann, wovor man nicht fliehen kann, lernt man zu lieben? Warum nehmen Menschen massivste Ungerechtigkeiten hin, warum dulden sie ständig sich verschlechternde Lebensbedingungen? Die Identifikation mit dem Aggressor ist ein sehr mächtiger psychologischer Abwehrmechanismus und potentiell ein Leben lang wirksam. Wikipedia: "Die Identifikation mit dem Aggressor (auch: Identifizierung mit dem Angreifer) bezeichnet in der Tiefenpsychologie einen Abwehrmechanismus, bei dem eine Person, die von einem Aggressor körperlich und/oder emotional misshandelt oder unterdrückt wird, sich unbewusst mit ihm identifiziert."

Ein trauriges Beispiel dafür ist das Wahlverhalten der gesellschaftlichen "Verlierer", um sich selber aufzuwerten. Das Ergebnis der Bundestagswahl 2009: 29 bzw. 30 Prozent der Arbeiter für die CDU/CSU und 13 Prozent der Arbeiter für die FDP (insgesamt: +/-  42/43% der Arbeiter für die Kapitalfraktion aus CDU/CSU/FDP). 22 Prozent der Arbeitslosen für die CDU/CSU und 10 Prozent der Arbeitslosen für FDP (insgesamt: '33 Prozent' - CDU/CSU/FDP) – ohne die Stimmen der von ihr verachteten und aktiv bekämpften "Minderleister" und Repräsentanten "spätrömischer Dekadenz" wäre die FDP möglicherweise gar nicht im Bundestag geblieben.
"Ebenso ist die bloße Empfindung, einer Situation nicht entfliehen zu können, genug Antrieb repressive Systeme zu unterstützen. Eine Studie von Kay macht das deutlich. Einer Probandengruppe sagte er, es würde leichter aus dem Land auszuwandern; der anderen, dass es schwieriger würde. Zusätzlich wurden die Teilnehmer über unfaire Verhältnisse im Land informiert. Anschließend sollten die Probanden angeben, wie sehr sie den Zustand des Landes unterstützen. Probanden, die davon ausgingen, dass sie ohne Probleme das Land verlassen könnten, kritisierten dessen Zustand strenger, während die anderen die Verhältnisse eher als wünschenswert einstuften." (SPIEGEL online: "Psychologie: Warum Menschen eine Diktatur verteidigen", 16.12.2011)
Wir sehen: Es funktioniert, wenn man nur eine ausreichende Zahl Menschen in Abhängigkeit hält.

Nun, da das System faktisch kollabiert, wird massiver Druck ausgeübt. Die Unterschicht als gesellschaftliche Realität wird komplett ausgeblendet, dient nur noch als Wichsvorlage für die Besitzenden in den "Reality"-Shows, als Ego-Politur - "Im Vergleich zu denen geht’s uns ja noch gut" -, als Druckmittel für Noch-Arbeitnehmer, als Pool für Leihfirmen, als Manipulationsobjekt für die Charity-Industrie. Nur in dieser Funktion hat sie noch so etwas wie eine Existenzberechtigung. In der Außendarstellung und im Selbstverständnis der Republik jedoch ist sie ausgelöscht. Wer von der Mittelschicht noch etwas anzubieten hat, wird in der Tretmühle zwischen Eigenheimhypothek, Familiengründung, Pendelfahrten, Wochenendbeziehung, 24-Stunden-Verfügbarkeit für den Arbeitgeber ausgepresst und dann auch auf den Müll geworfen. Was bleibt, ist eine Oberschicht, die vollkommen abgeschottet auf Kosten der restlichen Welt lebt, bis auch sie am Ende aus mangelnden Ressourcen wie Nahrung, Energie, Arbeitssklaven und Konsumentenvieh zugrunde gehen muss. Was sie natürlich in selbstherrlicher Verblendung nicht erkennt.

Im Grunde spielt sich momentan in kleinerem Maßstab, noch räumlich begrenzt, in den höher entwickelten Industriestaaten genau das ab, was Jared Diamond in seinem Buch "Kollaps" für untergegangene Kulturen beschrieben hat. Was hat der Bewohner der Osterinsel gedacht, als er den letzten Baum gefällt hat? Hat er überhaupt nachgedacht?

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