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Sonntag, 9. Juni 2013

Die Bewusstseinspyramide


"Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte statt dessen auf die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Film- mit den Waffeninteressenten deuten, den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann."
Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 1980, S. 113f.)



Eine andere Welt. Aquarell
Es ist merkwürdig mit dem menschlichen Fortschritt. Wir haben das Gefühl, dass zu keiner Zeit Fehler besser und genauer dokumentiert wurden als heute, dass niemals zuvor soviel Wissen für so viele Menschen jederzeit verfügbar gewesen ist. Und doch: Die Fehltritte und Fehlentscheidungen wiederholen sich. Allerdings sind heute die Folgen schwerwiegender als je zuvor. Einer meiner früherer Studienkollegen hatte eine Idee, wie sich die Ursache für all das in einem Bild darstellen ließe. Er nannte es die Bewusstseinspyramide.






Die untere Bewusstseinsstufe


Menschen ohne Bildung. Nicht Lesen und Schreiben zu können raubt einem Menschen die Möglichkeit, sich in seiner Welt zu orientieren. Er muss glauben, was ihm erzählt wird, er muss glauben, was er zu sehen bekommt. Er kann nichts von dem, was ihm widerfährt, hinterfragen. Er ist nur in der Lage, mit Menschen seiner eigenen Stufe zu kommunizieren. Er verhält sich weitgehend nach dem Reiz-Reaktionsmuster, sein Streben gilt seiner persönlichen Bedürfnisbefriedigung.

Klammert man einmal die Sprache aus, so ist dieser Bewusstseinszustand weitgehend dem des Tieres gleich. Was keineswegs als Abwertung der Tiere gemeint sein soll. Denn im Unterschied zum Menschen machen Tiere innerhalb ihres Lebensraums fast immer alles richtig. Sie sind nicht fähig zu geplantem, sadistischem, boshaftem Verhalten.

Die obere Bewusstseinsstufe


Menschen mit Bildung und einem Bewusstseinsstand, der dem jeweiligen kulturellen Kontext entspricht, meist aber diesen noch übersteigt. Es sind Menschen, die ihrer Zeit voraus sind. Häufig Künstler und Wissenschaftler. Diese Menschen sind in der Lage, ein transzendentes Bewusstsein zu entwickeln, das ihnen erlaubt, auch über die Zeitspanne ihres eigenen endlichen Lebens hinaus zu denken. Sie allein sind in der Lage, mit allen unteren Stufen zu kommunizieren. Wenn auch nur eingeschränkt, denn sie müssen ihren Sprachcode dem der jeweiligen Stufe anpassen. Was sich natürlich auch auf die Inhalte auswirkt. Komplexe Sachverhalte lassen sich nun einmal nicht in einfachen Sätzen ausdrücken. Das heißt: Die Richtung der sprachlichen Verständigung, die Vermittlung von Inhalten höherer Bewusstseinsstufen geht immer nur von oben nach unten, nie umgekehrt.

Das Dilemma der menschlichen Entwicklung: Niemals ist die Zahl der Menschen auf der obersten Stufe groß genug, um wirklich alle produktiven Gesellschaftsschichten ausreichend zu durchdringen und so dafür zu sorgen, dass in den Schlüsselpositionen der Macht ausreichend Bewusste sitzen. Nur so könnte sich der oberste Bewusstseinsgrad in der konkreten Lebenswirklichkeit manifestieren, und zwar so, dass er wirklich zu einer kulturellen Norm wird, ohne autoritären Zwang auf die unteren Bewusstseinsstufen ausüben zu müssen.

Selbstverständlich gibt es zwischen der Stufe am einen und der am anderen Ende Zwischenstufen. Aber mir und meinen Kommilitonen ging es vor allem um diese beiden Extreme, die in jeder Gesellschaft immer gleichzeitig vorhanden sind und von der zu allen Zeiten immer nur die unterste die zahlenmäßig absolute Mehrheit stellt.
"So müssen endlich aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blik, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrükt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das lezte, gröste Werk der Menschheit seyn."  
(Fragment, in Hegels Handschrift als sogenanntes "Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus" überliefertes Manuskript, Verfasserschaft uneindeutig, Datierung unklar, zwischen 1796 und 1797, wahrscheinlich eine Gemeinschaftsarbeit des Dichters Friedrich Hölderlin, und der Philosophen Friedrich Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel)
Immer wenn ich dieses Fragment lese, das so viel Euphorie, Zuversicht und Menschenliebe ausstrahlt, stellt sich bei mir eine große Trauer ein über die unwiderruflich verpassten Gelegenheiten. 

Wenn wir uns eine ideale Gesellschaft nach der Pareto-Regel vorstellen, so müssten 80% einer Gesellschaft reale Werte produzieren – Nahrungsmittel, Roh- und Werkstoffe, Güter, Dienstleistungen - , während die restlichen 20% darüber nachdenken, wo die Reise hingehen soll, unter welchen für alle zuträglichen Bedingungen. Die Unabhängigen, Unbestechlichen, objektiven, die mit dem durch keinerlei lobby- oder materielle Eigeninteressen getrübten Weitblick, die  Denker, sind schon aufgrund evolutionärer Prozesse grundsätzlich in der Minderheit, aber diese Leute brauchen wir. Das muss erst mal wieder in die Köpfe hinein. Es ist eine notwendige, überlebenswichtige Symbiose, eine im besten Sinn partnerschaftliche Zusammenarbeit, eine Kooperation zum Zweck eines nachhaltigen, stabilen Gleichgewichts, zusammengehalten und getragen von einer umfassenden, gegenseitigen Wertschätzung. Eine Gemeinschaft, die es nicht mehr nötig hat, künstliche Privilegien aufrechtzuerhalten. Kein Wettbewerb, keine Kosten-Nutzen-Relation, keine Seilschaften, keine Gönnerhaftigkeit von Seiten der 80%, keine elitäre Arroganz von Seiten der 20%. Eine Gemeinschaft, die es nicht nötig hat, auf ein höheres Wesen, eine höhere Gerechtigkeit zu hoffen, als Ausgleich irdischer Opfer und Mühen. Eine Gemeinschaft, in der jeder sich aufgehoben fühlt, wo jeder sein Bestes gibt.

Die 80% müssen begreifen, dass sie diesen Job der 20%, selbst wenn sie es wollten, nicht leisten können, weder in praktischer Hinsicht - sie haben schlicht keine Zeit zum Nachdenken -, noch in theoretischer Hinsicht, denn dafür bedarf es einer speziellen psychischen und höchstwahrscheinlich erblichen Disposition, die man in diese Welt mitzubringen hat oder eben nicht, sie kann nicht erlernt werden. Die 80% begreifen, dass ihre Beschränkung, kein Makel, sondern notwendige Voraussetzung ist für das, was sie tun. Langfristiges, über Generationengrenzen hinweg reichendes Denken ist kein Spaß, da es für die 20% sehr wahrscheinlich keine Belohnung zu Lebzeiten gibt. Und den 20% muss klar sein, dass sie schlicht und ergreifend wenig oder keine Überlebenschance hätten, wenn die 80% sie nicht durchfüttern würden. Sie müssen ihre Arbeit, diesen Dienst an der Menschheit, also im besten Sinne als Verpflichtung, als Berufung sehen, ihr erworbenes Wissen, ihre angeborene Gabe für andere einsetzen, sie sind Fackelträger, die die Flamme der Erkenntnis und der Weisheit weitergeben. Das muss als Antrieb, als intrinsische Motivation ausreichen.

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