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Sonntag, 23. Juni 2013

Notizen über Webforen



Wenn die Zahl derer, die mitzureden haben, ins Unermessliche steigt, dann hören die auf zu reden, die etwas zu sagen haben.
Verfasser unbekannt



Damara, Namibia
Ein aufmerksamer Leser, der sich durch die öffentlich zugänglichen Presse- und Meinungsportale, durch Forumsbeiträge und Benutzerprofile klickt, wirft quasi einen Blick in eine seit über 20 Jahren laufende Versuchsreihe mit lebenden „Laborratten“. Denn hier treffen nicht nur verschiedene Altersgruppen aufeinander, sondern zugleich Denkweisen, die unvereinbar sind, und die, wie mir scheint, auf dem unterschiedlichen Umgang mit dem Internet beruhen. Der Unterschied ist so fundamental, weil er viel tiefgreifendere Folgen hat wie etwa die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs.


Erst heute beginnen wir allmählich zu erkennen, wie sehr das Internet Sprache und Denken, das Verhalten, die Kommunikationsformen und sozialen Normen, wenn nicht gar die Persönlichkeitsstruktur beeinflusst. Die sofortige weltweite Veröffentlichung und in der Folge meist auch Kommentierung jedes gedanklichen Furzes kann u.a. zu Persönlichkeitsstörungen wie permanente Selbstüberschätzung der eigenen Bedeutung bis hin zum Größenwahn führen. Ältere Wenig- oder Gelegenheitsforisten brauchen das Internet und speziell Foren, Blogs und Chatrooms nicht, um sich und anderen ihre eigene Existenz zu beweisen. Typisch ist z. B. die Arroganz und Überheblichkeit der sogenannten digital natives beim Austeilen von unqualifizierten Urteilen, die argumentativ oft gar nicht begründet sind. Auch die Immunität gegenüber Kritik ist auffällig. Ich bezweifle sogar, dass Jüngere wissen, was ein Argument, eine allgemein nachvollziehbare Begründung überhaupt ist.

Die Beiträge in offenen Internetforen sind öffentlich. Jeder kann sie lesen. Was das heißt, darüber gibt es in der so genannten Internet-Generation offenbar kein Bewusstsein mehr. Das macht sich eben in erster Linie bei Sprache und Artikulationsfähigkeit bemerkbar. Manche Beiträge lesen sich wie Auszüge aus einem privaten Email-Schriftverkehr. Aber ein öffentliches Forum ist eben nicht einfach nur die Erweiterung des eigenen Zimmerchens bei Mama und Papa. Noch gibt es klare Regeln im öffentlichen Umgang miteinander. Das kann jeder von uns jederzeit austesten. Würde jemand einen anderen fremden Menschen auf der Straße oder in einem Café so anpöbeln wie im Forum, bekäme er wahrscheinlich einen Tritt gegen das Schienbein oder sonst wohin – zumindest verbal.
Das Bewusstsein darüber, dass in Foren zumindest tagsüber immer wesentlich mehr Gäste mitlesen als registrierte Benutzer, fehlt oder ist unterentwickelt. Ob es uns passt oder nicht, wir werden von anderen ständig danach beurteilt, was wir tun, was wir sagen und wie wir es sagen. Ein guter Freund, der von mir am Telefon angeschnauzt wird, weiß womöglich auch, dass ich nur einen schlechten Tag gehabt habe und kann meine Worte dementsprechend einschätzen, ein anonymer Foren-Gast, der die Beiträge nur mitliest, oder ein aktiver Forist kann das nicht.
Außerdem lässt sich ein Desinteresse an der Meinung anderer beobachten, oder vielleicht auch die komplette Unfähigkeit, andere Standpunkte anzuerkennen als gleichberechtigte Standpunkte neben dem eigenen, d.h. es fehlt die Fähigkeit zum Objektivieren. Statements werden abgegeben – nicht, um andere zu überzeugen, sondern einzig und allein um das eigene Ego zu stärken, das Revier zu markieren (die Mehrzahl der Foristen ist männlich): Hier stehe ich und weiche mit meiner Meinung keinen Millimeter von der Stelle.
Die älteren von uns haben naturgemäß ein anderes Verhältnis zu Zeit, insbesondere zur Freizeit, weil die eben für die meisten sehr knapp bemessen ist. Da überlegt man es sich doch lieber genauer, ob man vor dem Bildschirm sitzen und sich durch unqualifizierte, sinnleere Beiträge klicken will.
Wer stundenlang am Bildschirm sitzt und Forumsbeiträge in die Tastatur kloppt, tut dies in der Regel allein. Er/sie kommuniziert während dieser Zeit deshalb logischerweise nicht mit anderen leibhaftig physisch anwesenden Menschen, also nicht mit dem Partner, nicht mit der Freundin, nicht mit den Kindern oder sonst irgendeinem lebendigen Wesen wie etwa einem Haustier. Außerdem trägt er/sie während des Postens im Allgemeinen nicht durch produktive Arbeit zum Bruttosozialprodukt bei, erst recht nicht zu nachbarschaftlicher oder ehrenamtlicher Hilfe, und er/sie unterstützt nicht durch Warenkonsum den Wirtschaftskreislauf. Um das zu erkennen, muss man nur Frequenz und Uhrzeit der Postings analysieren. Besonders vor dem Hintergrund des letztgenannten Sachverhalts kann es sich bei den meisten full-time-Foristen nicht um "systemrelevante" User handeln.
Nicht wenige Foren-User dazu neigen dazu, aufgrund der Zahl der Beiträge und der positiven Bewertungen von einer nachweislichen Meinungsführerschaft zu einem Thema innerhalb eines Threads Rückschlüsse auf eine allgemeine gesellschaftliche Meinungsführerschaft zu ziehen. Das ist ein Trugschluss - zumindest solange es in dieser Welt noch Menschen gibt, die in der Zeit, in der andere im Netz unterwegs sind, Bettpfannen ausleeren, Starkstromleitungen reparieren, in einer Werkhalle Autos montieren oder was auch immer. Man mag diesen Umstand nun bewerten, wie man will, aber es wäre gut, ihn zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen. Die Netz-Community dürfte so ziemlich in allen Foren der Welt aus naheliegenden Gründen bei netzaffinen Themen die Meinungshoheit haben, die sich jedoch banalerweise in erster Linie aus ihrer verstärkten Online-Präsenz herleitet. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum so wenig, so schlecht oder gar nicht argumentiert wird, denn Gleichgesinnte muss man nicht mehr überzeugen. Ein idealer Nährboden also für blinde Flecke.




(Geschrieben ca. 2008)

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