Seiten

Montag, 14. Oktober 2013

Nagelprobe


"Sechs friedliche Jahrzehnte haben dafür gesorgt, dass die Bürger die Grundrechte nicht mehr als schützenswertes Allgemeingut, sondern als eine Sammlung von Privatansprüchen auf persönliche Bedürfnisbefriedigung missverstehen. Jeder, der sich vom Leben ungerecht behandelt fühlt, besinnt sich auf seine "Grundrechte" wie auf einen Forderungskatalog, den Millionen nörgelnder Einzelkinder ihrem "Vater Staat" entgegenhalten. In Wahrheit sind die Grundrechte ihrer Konzeption nach keineswegs Gutscheine auf persönliche Fürsorge, sondern ein Abwehrschirm gegen staatliche Eingriffe."
Ilija Trojanow/Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit, dtv 2010,. S. 29



Spreetshoogte, Namibia
Was soll man dazu noch sagen? Nichts. Es gibt nichts mehr zu sagen. Und dabei hat man ja schon so einige Verschwörungstheorien gelesen und über die meisten im Stillen geschmunzelt. Die Realität übertrifft einmal wieder die wildeste Sciencefiction-Phantasie. Mahnungen und Warnungen, die man noch vor 5, erst recht vor 10 Jahren zu Datensicherheit und Privatsphäre gelesen oder selber geschrieben hat, wirken jetzt angesichts flächendeckender jahrzehntelanger, systematischer Überwachung fast kleinkariert: Was, darüber konnte man sich früher noch aufregen? In welchem Ausmaß die Einstellung zu Freiheit und Sicherheit während der letzten drei Jahrzehnte gekippt ist, lässt sich im direkten Vergleich zu den Volkszählungsprotesten Anfang der 80er erkennen. Der Zensus 2011 ist auch weitgehend ohne Gegenwehr geschluckt worden.

Sascha Lobo schreibt sich seit Wochen die Finger wund, umsonst. Der Opportunismus hat gesiegt, das "Zeitalter des Pseudo-Privaten" hat begonnen.
"Die Spähaffäre ist längst nicht mehr nur NSA-Angelegenheit, sondern nur das Symptom einer weltweiten, kalten Sicherheitshysterie. Der BND hat den Frankfurter Netzknoten DE-CIX angezapft, über den weitgehend innerdeutscher Datenverkehr läuft. Den darf der BND nicht ablauschen. (...) Da passt ins Bild, dass über Jahre gezielt Gespräche zwischen Strafverteidigern und ihren Mandanten belauscht wurden. Das ist die Aufkündigung des Rechtsstaats durch Ermittlungsbehörden. (...) Solches Handeln der Apparate ist kein Zufall, sondern das Produkt einer Politik, die ihre Vorstellung von Gesellschaft für relevanter hält als das Grundgesetz."
Ähnlich resigniert äußert sich Michael Seemann in der ZEIT über die fehlenden Bürgerproteste. "Der Kampf gegen die NSA braucht neue Narrative". Für die Regierungsparteien war im Wahlkampf der Spähskandal überhaupt kein Thema. Stattdessen übernimmt es die ZEIT, ihre Leser über Möglichkeiten eines digitalen Schutzschilds zu informieren. Der SPIEGEL veröffentlicht als Reaktion auf die Prism-Enthüllung einen kritischen Bericht über Abhörpraktiken der NSA – der bereits 1989 erschienen ist! Alle haben immer schon über alles Bescheid gewusst. Die FAZ veröffentlicht einen offenen Brief von Juli Zeh an Angela Merkel: "Deutschland ist ein Überwachungsstaat".
Der Jurist Heribert Prantl spricht Klartext.
"Die freie Kommunikation ist aber, so hat es das Bundesverfassungsgericht beschrieben, eine "elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen Staatswesens". Waren die Richter, als sie das formulierten, so etwas wie die Minnesänger der alten, der vergehenden Epoche? Wenn sie recht haben und wenn eine elementare Bedingung der Freiheit elementar bedroht ist, ja womöglich schon gar nicht mehr existiert - wäre das ein Kennzeichen für die Umwandlung der Gesellschaft: in einen neuen Absolutismus, der von geheimdienstlicher Souveränität getragen wird." (Süddeutsche, Heribert Prantl: "Im Zeitalter der digitalen Inquisition", 13.09.2013)
Hier noch einmal ein paar der wichtigsten Enthüllungen des Edward Snowden. Die National Security Agency (NSA), der Auslandsgeheimdienst der USA überwacht monatlich bis zu 500 Kommunikationsverbindungen aus Deutschland, Smartphones und SMS, den internationalen Zahlungsverkehr und ist in der Lage, https-Verschlüsselungen zu umgehen. Sie erhält auch Zugriff auf Vorratsdaten von Telekommunikationsfirmen. Die britische Behörde Government Communications Headquarters (GCHQ) überwacht mit dem Spähprogramm Tempora alles, was durch die Seekabel geht. Das Bundesamt für Verfassungsschutz testet eine neue Späh- und Analysesoftware und hat sich verpflichtet, die daraus resultierenden Ergebnisse der NSA zur Verfügung zu stellen, wenn die Software in Betrieb geht.

Die offensichtliche Billigung dieses Skandals, dieses Super-GAUs für unsere Grundrechte durch die Normalbevölkerung ist bereits selber ein Skandal, dieses selbstgerechte, verblödete "ich habe ja nichts zu verbergen" tönt uns überall entgegen. Es ist diese unausrottbare Staats- und Autoritätsgläubigkeit, der alle Freiheit und Selbstbestimmung geopfert werden muss. Man projiziert einfach seine eigenen Sicherheits- und Kontrollwahn, sein eigenes tiefsitzendes Misstrauen auf den Rest der Welt. Jeder, der versucht, seine Spuren im Web zu verschleiern, gilt bei dieser Klientel heute schon von vornherein als verdächtig. Man kann sicher sein, dass in ein paar Jahren jeder freie Blog, jede freie Meinungsäußerung im Internet von vornherein mit Hilfe der Selbstzensur unterdrückt werden wird. Wer will sich schon freiwillig dieser totalen Überwachung auf dem Silbertablett servieren?

Was bei diesem Thema auch auffällt: Männer mokieren sich jetzt in den Foren vollkommen zurecht darüber, dass die merkelsche "Schland"-Halskette den weiblichen Wählerinnen offenbar wichtiger ist als Wahl-Inhalte. Dabei ist diese apolitische Haltung nur die logische Konsequenz daraus, dass Männer die Frauen im Zuge des patriarchalen Rollbacks seit Mitte der 80er aus dem öffentlichen und politischen Diskurs, aus den Führungsriegen verbannt und zu diesen debilen Fünfziger Jahre-Gebärmaschine, Putz- und Küchenfee-Klischee instrumentalisiert, zu frisierten Äffchen konditioniert haben, die sie jetzt nun einmal sind. Vielleicht kann man sich da langsam mal entscheiden, was Mann will? Braucht man Frauen noch als Stimmvieh oder nicht? Denn wenn nicht, dann sollte man auch so konsequent sein und ihnen das Wahlrecht wieder entziehen. Es würde wahrscheinlich inzwischen keinen Unterschied mehr bei den Wahlergebnissen ausmachen.

Ist man in Deutschland zu dumm oder zu abgestumpft nach fünf Jahren Dauerkrise? Unfähig zu abstrahieren? Bricht hier regressiv-kindliches Vertrauen durch, Mutti macht das schon? Auf der anderen Seite können sich Deutsche durchaus echauffieren über aggressive Telefonwerbung oder Anrufe von Marktforschungs-, sprich Schnüffelfirmen, über kiloweise Werbemüll, über Spam Mails, über einen abgelehnten Kreditantrag, über die Tatsache, dass ein Online Shop auf einmal Vorkasse verlangt, obwohl man bisher jahrelang auf Rechnung gezahlt hat, über ein Einreiseverbot in die USA oder stundenlange Kontrollen an Flughäfen, aber man kapiert offenbar nicht, dass es da irgendwo einen Zusammenhang geben könnte zwischen Browsen, Tracking und Einkaufsverhalten im Web oder mit Kundenkarte, Social Media-Profil, Smartphone-Apps, Rezept- und Patientendaten, elektronischer Gesundheitskarte, Steueridentifikationsnummer, digitalen Strom- und Wasserzähler, Postanschrift (Street View, Nachbarschaft), Kontostand, Schufa, Meldedaten. Und das sind ja nur die uns allen bekannten Datenverknüpfungen für Privatpersonen. Es geht natürlich aber auch und möglicherweise sogar hauptsächlich um Wirtschaftsspionage.

Und glaubt irgendjemand im Ernst daran, dass seine Daten bei Apple, iTunes, YouTube, Facebook, LinkedIn, XING, Google, Twitter oder in der Cloud sicher sind? Dass jeder darüber die volle Kontrolle hat? Facebook hat gerade mal wieder seine Privatsphäre-Einstellungen geändert. Nun ist die Verstecken-Funktion außer Kraft gesetzt, wie SPIEGEL online berichtet:
"Sprich: Alle Mitglieder bei Facebook werden künftig per Suchanfrage gefunden. Damit beschränkt Facebook erneut die Möglichkeiten der Nutzer, ihre Daten selbst zu kontrollieren. (...) Erst im August hatte das Unternehmen die Nutzungsbedingungen zu seinen Gunsten überarbeitet. Facebook erlaubt sich seither ganz generell, mit den Namen und Profilbilder der Nutzer zu werben. Dagegen können sich die Nutzer nicht wehren."
Das freut den Chef, den oder die Ex-Geliebte/n, die Stalker, und vor allem die Werbeindustrie. Als nächstes wird Facebook wahrscheinlich das Löschen des Profils verbieten.

Wer im Hamsterrad feststeckt, in der Schuldenfalle, hat keine Kraft für scheinbar abstrakte Probleme. Hat keine Kraft, sich für mehr Bürgerrechte, sich gegen Demokratieabbau einzusetzen. Er ist rund um die Uhr damit beschäftigt, den Kopf oben zu halten. Diejenigen, die die Zeit zur kritischen Reflexion haben, sind größtenteils abgeschrieben von der Gesellschaft, dank Rot-Grün, dank Schröders Agenda 2010. Tolle Arbeitsteilung. Die anderen mit Zeit und Muße sind die direkten Profiteure und Parasiten des Systems, sie werden sich hüten, daran zu rütteln, und sitzen weiter in Chefsesseln, auf Meetings, auf Golfplätzen, auf Galopprennbahnen oder Kreuzfahrtschiffen, sie pflegen ihre englischen Rosen, sind von der Realität abgekoppelt und freuen sich ihres Lebens. Schade, dass es nur so kurz ist!

Das Ziel der Überwachung ist der gläserne Bürger. Wer denkt sich so ein Menschenbild aus? Ist es nur der persönlichen Paranoia eines Innenministers geschuldet oder steckt mehr dahinter? Die Meldungen häufen sich, eine ist beunruhigender als die andere. Hacks in Wirtschaftsunternehmen, sozialen Netzwerken, Melderegisterdaten werden ohne Zustimmung der Betroffenen verkauft, Ortungsdaten über Smartphones gesammelt, Phishing und Datenklau beim Online Banking, flächendeckende Videoüberwachung in den Städten, Telefonüberwachung. "Bundes"-Trojaner auf dem heimischen Rechner erstellen unbemerkt Screenshots direkt an anonyme kontrollwütige "Gesetzeshüter", versenden im Minutentakt.

Immer wieder neue gibt es neue Vorstöße von Seiten des Innenministeriums, eine zentrale Superdatensammelstelle zu etablieren: Steuerdaten, Krankendaten, Reisedaten, Konsumdaten, Meldedaten, Daten von Arbeitgebern, Arbeitsämtern, Sozialämtern, Kommunikationsdaten aus dem Internet, Email und Telefon, Bank- und Vermögensdaten, Grundbuchdaten. Der Bürger wird zu einer einzigen Datenspur, die je nach Gusto und nach intransparenten Regeln willkürlich ausgelegt werden kann, oder er hat gar keine bzw. nur eine inkonsistente Datenspur, dann ist er erst recht verdächtig. Die gesamte Bevölkerung wird unter Generalverdacht gestellt. Das bedeutet im Klartext die Umkehrung der Unschuldsvermutung. Nicht mehr der Staat muss ein Vergehen nachweisen, sondern der im Regelfall technisch unbedarfte Bürger muss seine Unschuld nachweisen. Aber wie? Er weiß ja gar nicht,wo und was über ihn gesammelt wurde und zu welchem Zweck. Wer kann garantieren, dass Menschen gleichen Namens auseinander gehalten werden können? Wir haben ja noch nicht einmal ein funktionierendes Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Daten können und werden täglich tausendfach manipuliert. Daten werden täglich geklaut, ausgespäht, es soll auch unter Beamten so etwas wie Betriebsspionage und Sabotage vorkommen. Wenn man weiß, dass man für einen einfachen Datenträger mit ein paar tausend Datensätzen reich werden kann, wie um Himmels willen soll denn da Missbrauch und Diebstahl verhindert werden?

Ende der 80er Jahre formulierte die US-amerikanische Philosophin und Sozialpsychologin Shoshana Zuboff - “the true prophet of the information age” - folgende drei Gesetze:

1. Everything that can be automated will be automated.
2. Everything that can be informated will be informated.
3. Every digital application that can be used for surveillance and control will be used for surveillance and control.

Man könnte sogar noch viel früher ansetzen und Franz Kafka's "Der Prozess" als prophetische Vision dessen ansehen, was diese Totalüberwachung möglicherweise impliziert: Willkürliche Verhaftung, keine unabhängige nationale Gerichtsbarkeit, keine Möglichkeit zur Verteidigung oder zu einem Einspruch, extraterritoriale Gefängnisse, Standgerichte

Was kann man tun? Protestieren, Online-Petitionen unterschreiben, vielleicht mal wieder einen Brief schreiben oder einen Waldspaziergang machen? Auswandern? Vielleicht nach Grönland? Oder einfach offline gehen? Kann man das heute überhaupt noch?

Das System erzeugt seine eigenen Vernichtungswerkzeuge. Es wird implodieren. Die Parasiten vernichten ihren Wirt. Es gibt gar keinen Feind da draußen. Der Krebs, das tödliche Virus, das Programm sitzt schon längst im eigenen Haus. Der Countdown läuft bereits. Wenn heute ein Problem auftaucht, wird immer und zuverlässig genau das Mittel verwendet, das am schlechtesten dafür geeignet ist, die schlechteste aller denkbaren Lösungen. Für die Aufgaben und ihre Lösungen werden immer und überall die denkbar ungeeignetsten Leute, die denkbar ungeeignetsten Methoden ausgesucht. Es wird also in naher Zukunft die größte Datensammlung aller Zeiten geben, das vollständige Register aller Erdenbürger und ihrer privaten und öffentlichen Lebensäußerungen, alle verchipt und permanent überwacht, während gleichzeitig ein Großteil dieser verchipten und überwachten Erdenbürger vor den Augen aller Welt verhungern, verdursten, durch Naturkatastrophen sterben, weil die Menschheit, genauer gesagt Großkonzerne und Staatenlenker es nicht schaffen, die Energieversorgung, die Nahrungsmittelproduktion zu sichern geschweige denn gerecht zu verteilen, die Überbevölkerung zu stoppen, die Klimaziele zu erreichen. Egal, Hauptsache, wir bekommen Big Data.

Ich hatte für diesen Post eigentlich noch mehr Belegstellen vorgesehen, aber die sind mir jetzt zu heikel geworden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen