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Sonntag, 28. April 2013

In der Kuschelhöhle


"Walking in cities of stone, the shadows groan
Thousands of people but you're all alone
In your own little zone like a drone
Working in hives all your lives, bowing down to the throne
Born into the age of panic
Into an age of panic
Born into an age of panic
Into an age of panic"
Senser, Age of Panic, 1994



Abstrakt, Aquarell
Die Menschen sind heute so über alle Maßen orientierungslos und überfordert, dass sie scharenweise zum erstbesten, unzweideutigsten Nenner flüchten, an dem sie ihre Biografie, ihre Identität oder das, was sie dafür halten, festmachen können. Als da vor allem wären: das Geschlecht, die Staatszugehörigkeit, der Geburtsort, die Religionszugehörigkeit, der Geburtenjahrgang -  all diese in den meisten Fällen vollkommen kontingenten Fixpunkte sollen nun Sinn und Trost stiften inmitten einer als chaotisch und bedrohlich empfundenen Welt.

Vor allem die Flut der Sendungen und Veröffentlichungen zum Thema Geschlechterunterschiede oder die "Generationen-Bücher" - Generation Golf, Generation X,Generation 2.0., Generation Doof, Generation Praktikum, Generation Ally, und wie sie alle heißen - muss doch allmählich jedem auffallen, ebenso die Wiederkehr der Männerbünde und Burschenschaften, die Heimatseligkeit in den TV-Regionalprogrammen, der Lokalpatriotismus mit seinen Straßen-, Stadtteil- und Dorffesten, der Nationalismus hinter der Fassade des Fussballs, der zunehmende religiöse Fundamentalismus jeglicher Couleur.
Von wie vielen Nostalgiewellen sind wir schon in der letzten Jahren heimgesucht worden: die spießig-kleinbürgerlichen 50er und die schrillen 60er, die hedonistischen 80er und 90er - interessanterweise aber nicht die 70er, die sind offenbar unattraktiv als Sehnsuchtsort: zu weltoffen, zu freizügig, zu liberal, zu intellektuell (man erinnere sich nur an die Kinofilme!), zu sozialkritisch?

Fluchtreflexe und Rückzugstendenzen allerorten, ins Heim als kuschelige Höhle, in den Zaubergarten der Kindheit, in die goldene sorglose Vergangenheit. Wir lauschen der Babysprache bei den Pärchen, sehen die Alete Babynahrung im Einkaufswagen des berufstätigen Singles, sind gerührt über den Teddybären als Einschlafhilfe, verschenken Fantasyromane (Altersempfehlung ab 12 Jahren) an unsere erwachsenen Freunde, und Omis Kochschule aus den Nachkriegsjahren hat wieder Konjunktur.
"Dass Vintage, Retro und Nostalgie heute so große Bedeutung haben, erklärt Reynolds mit dem technischen Fortschritt und dem Niedergang der kapitalistischen Ökonomie. Es sei eine Möglichkeit, sich den immer kürzeren Produktlebenszyklen und der beängstigenden Gegenwart zu entziehen, indem man alle Zeitlichkeit ablehne. Der Nostalgiker entwerfe seine Identität in einer vergangenen Epoche, um sich dem flüchtigen Jetzt zu widersetzen und um überhaupt etwas habhaft werden zu können. Demnach ist der Pop von heute nicht mehr als offensiver Kommentar zum Weltgeschehen zu lesen, sondern nur noch in seiner passiven Verweigerungshaltung zu verstehen. " (ZEIT online: Sachbuch "Retromania. Pop am Rande der Erschöpfung", 14.10.2011)
Das ist purer Eskapismus von Kindern in den Körpern von Erwachsenen. Die Realität ist böse und bedrohlich, die soll draußen bleiben. Lasst mich doch alle in Ruhe. Ich will wieder Kind sein. Man will nicht mehr hinsehen, sich nicht mehr auseinandersetzen. Rückzug an allen Fronten. Ein Online-Forist bemerkt dazu treffend:
6. DenRetrotrend 
gibt es ja nicht nur in der Musik, sondern in vielen kreativen Bereichen (zB Autodesign, Kleidung, Inneneinrichtung). In unsicheren Zeiten, die wir - je nach subjektiver Einordnung - seit drei oder zehn oder noch mehr Jahren haben, sind die Menschen Neuem gegenüber weniger aufgeschlossen, sondern klammern sich an Bewährtes: der Alltag hält schon genug Veränderungen, die vom Menschen üblicherweise als bedrohlich empfunden werden, bereit. Hinzu kommt das Wegbrechen von immer mehr "Wahrheiten": mein Job ist sicher, Staatsanleihen fallen nicht aus, das Vertrauen in viele Berufsgruppen (Ärzte, Anwälte, Bänker usw.), der Westen ist gut und bestimmt das Weltgeschehen u.v.m.
Am deutlichsten zeigt sich das Phänomen des zunehmenden Infantilismus am Beispiel der Kinohits der letzten Jahre in Deutschland 2000 – 2010:

Harry Potter und der Stein der Weisen
Besucher in Deutschland: 12,56 Millionen
Deutscher Kinostart: 22. November 2001

Der Herr der Ringe - die Gefährten
Besucher in Deutschland: 11,83 Millionen
Deutscher Kinostart: 19. Dezember 2001

Der Schuh des Manitou
Besucher in Deutschland: 11,72 Millionen
Deutscher Kinostart: 19. Juli 2001

Avatar - Aufbruch nach Pandora
Besucher in Deutschland: 11,23 Millionen
Deutscher Kinostart: 17. Dezember 2009

Der Herr der Ringe - die zwei Türme
Besucher in Deutschland: 10,69 Millionen
Deutscher Kinostart: 18. Dezember 2002

Der Herr der Ringe – die Rückkehr des Königs
Besucher in Deutschland: 10,43 Millionen
Deutscher Kinostart: 17. Dezember 2003

Harry Potter und die Kammer des Schreckens
Besucher in Deutschland: 9,70 Millionen
Deutscher Kinostart: 14. November 2002

(T)raumschiff Surprise – Periode I
Besucher in Deutschland: 9,17 Millionen
Deutscher Kinostart: 22. Juli 2004

Ice Age 2
Besucher in Deutschland: 8,75 Millionen
Deutscher Kinostart: 6. April 2006

Ice Age 3
Besucher in Deutschland: 8,71 Millionen
Deutscher Kinostart: 1. Juli 2009

Man vergleiche dazu die Liste der weltweit erfolgreichsten Filme nach Jahr.

Ein sehr zuverlässiger Indikator für gesellschaftliche Trends ist das Autodesign. Der FAZ-Autor Niklas Maak konstatiert in einem sensiblen Bericht über eine Automobil-Messe in Detroit:
"Zwei Formengenres dominieren hier, zwei Symptome: Nostalgie und Hysterie. (...) Wo das Design nicht in die Vergangenheit flieht, zeigt es eine andere Fluchttendenz - Abschottung von der Außenwelt. (...) Die neuen Autos sind anders. Sie werden, wie vieles zur Zeit, vom Tod her gedacht: Nicht vom möglichen Glück kündet ihre Formensprache, sondern von der Gefahr des Unfalls, des Scheiterns, vom worst case scenario. (...) Man kann spekulieren, ob das Phänomen, das Ding von der Möglichkeit des Todes her zu denken, Symptom einer Gesellschaft ist, die sich nicht mehr, wie in den siebziger Jahren, auf eine Idee von Freiheit, sondern von Sicherheit orientiert. (...) Es ist ein seltsames, nur psychologisch erklärbares Symptom, dass ausgerechnet in der weitgehend offroadfreien westlichen Welt, in einer der längsten Friedensphasen der Geschichte, alltägliche Verrichtungen wie einkaufen oder Kinder zur Schule fahren immer mehr mit Autos erledigt werden, deren Optik sich an klassischem Kriegsgerät orientiert."
Das aktuelle Autodesign spiegelt somit die ganze Ambivalenz der Gegenwart wider, Nostalgie und Hysterie. Im Autoinneren wird eine heile Welt, eine Kuschelhöhle simuliert, während dasselbe Auto von außen die abschreckende Optik eines Raubtiers oder eines Kampfwagens erhält.

Auch das gehört in die Rubrik Abschreckung und Aggression: Röhrende Auspuffanlagen. Pubertärer geht's nicht. Potenzsimulation. Atavistisches Steinzeit-Reptilienhirn-Verhalten. Den Gegner einschüchtern. Aufmerksamkeit um jeden Preis, vielleicht auch Sadismus.

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