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Mittwoch, 20. März 2013

"Das kann ich auch" - Über einen missachteten Berufsstand



"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt."
Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 1921, Satz 5.6




Grootberg, Namibia
Seit einigen Jahren muss ich folgende Beobachtung machen: Immer mehr Menschen sind nicht mehr in der Lage, den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Text zu erkennen. Das bedeutet für alle, die sich auf diesem Gebiet beruflich betätigen - Redakteure, Journalisten, Werbetexter, Lektoren, Autoren - eine schleichende Entwertung ihrer Arbeit, und das nicht nur materiell. Immer mehr Menschen fühlen sich inzwischen berufen, ihnen in ihr Handwerk zu pfuschen, offenbar in der unumstößlichen Überzeugung "Das kann ich auch, das ist doch nichts Besonderes. Lesen und Schreiben lernt man doch schon in der Schule." Verständlicherweise besteht eine große Abneigung, den Textmenschen für ihre Arbeit auch noch Geld zu zahlen, für eine Arbeit nämlich, die in den Augen vieler erstens als zweitrangig angesehen wird ("Wer liest denn heute überhaupt noch?") und zweitens potentiell als Arbeit, für man keinerlei spezielle Ausbildung benötigt.



Hier ein Beispiel für die Arroganz der Ignoranten, wenn es um "weiche" Themen wie Sprache und Literatur geht#24

Hinzu kommt: Je mehr schlechte Texte veröffentlicht werden, desto mehr gewöhnen sich Leser an dieses Niveau und umso mehr verschwindet wiederum die Fähigkeit, gute Texte als solche zu erkennen, zu verstehen und zu würdigen. Es handelt sich hier um einen selbstverstärkenden Prozess. Kaum jemand vermag sich ihm auf Dauer zu entziehen, ich selber bin natürlich auch keine Ausnahme. Ein Internet-Forist hat diesen Sachverhalt folgendermaßen auf den Punkt gebracht: "Wenn Konsumenten Qualität nicht unterscheiden können, lohnt sich für Vermarkter von Professionalität der Kostenaufwand nicht. Gutes und Schlechtes findet gleiche Preise. Letzteres ist billiger, bringt mehr Profit."(#63)

Gutes Schreiben lernt man nicht nur durch ständige Übung, sondern eben auch durch die Lektüre guter Texte. Hier hilft auch das Argument nicht mehr, dass heute dank Internet und der allgemein gestiegenen Zahl formal höherer Bildungsabschlüsse mehr denn je geschrieben und gelesen wird. Das ist gewiss wahr und dennoch ein typischer Denkfehler, denn Quantität hat mit Qualität zunächst rein gar nichts zu tun. 
Jedem, der aufgrund dieser Beobachtung mit den Schultern zuckt - "Ist eben so, kann man nichts machen" - oder gar Bilder als Informationsträger gegenüber dem Text grundsätzlich vorzieht, denn die sagen ja bekanntlich mehr als 1000 Worte, möchte ich hier entgegnen: Unklare Sprache verweist auf unklares Denken, wie einer meiner früheren Dozenten zu sagen pflegte, und man muss hoffentlich kein Sprachphilosoph sein, um die Plausibilität dieser Behauptung nachzuvollziehen zu können. Unklares Denken - unstrukturiert, unlogisch, unzusammenhängend, ungenau - kann auch im Einzelfall zu falschen, unklugen Entscheidungen führen.

(Geschrieben 2006)

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