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Mittwoch, 13. März 2013

Geschlossene Gesellschaft


"Den Fortschritt verdanken wir den Nörglern. Zufriedene Menschen wünschen keine Veränderung."
H. G. Wells



Fliegender Drachen. Dänemark
Jean Améry, Carl Friedrich Gauß, Johann Gottlieb Fichte, Adalbert Stifter, Edgar Allan Poe,
Nicolaus Lenau, Hans Christian Andersen, Albert Camus, Miguel de Servantes SaavedraCharles Dickens, Maxim Gorki, Knut Hamsun, Christian Friedrich Hebbel, Hermann Hesse, Johann Gottfried Herder, Jean Paul,  James Joyce, John Osborne, George Bernhard Shaw, August Strindberg, Jonathan Swift, Leo N. Tolstoi, Vergil, Walther von der Vogelweide, Herbert George Wells.

Und man könnte hier noch Dutzende weiterer Beispiele anführen. Die erste Gemeinsamkeit fällt einem erst auf, wenn man sich die jeweiligen Biografien ansieht. Diese großen Schriftsteller und Denker sind in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatten eine unglückliche Kindheit, erlitten früh Schicksalsschläge wie den Tod eines oder beider Elternteils, konnten nur in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten.



Einige trafen aber auch auf Förderer und Mentoren oder auf andere glückliche Umstände, die ihnen den Ausweg aus ihrer unterprivilegierten Lage, den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung ermöglichten. Oftmals setzten sich Mütter und andere weibliche Verwandte für sie ein, stellten ihre eigenen Interessen zurück zugunsten der begabten Kinder. Und das, was viele Werke dieser Kreativen auszeichnet, der Humanismus, der scharfe Blick für soziale Missstände und Ungerechtigkeit, konnte sich so authentisch nur auf der Grundlage ihrer harten Lebenswege  entwickeln.

Die zweite Gemeinsamkeit: Die Werke dieser "underdogs" gehören zur Hochliteratur, wurden mit Nobelpreisen geehrt, sind Bestandteil des tradierten bürgerlichen Bildungskanons, des kulturellen Kapitals der gehobenen Mittelschicht - und es ist genau diese gesellschaftliche Schicht, die heute auf Kinder aus nicht-akademischen Elternhäusern, auf Bildungsaufsteiger, auf randständige oder gescheiterte Existenzen, auf die "underdogs" verächtlich spuckt, dasselbe Bildungsbürgertum, das in Gestalt der Lehrerschaft den begabten "Schmuddelkindern" die Gymnasialempfehlung verweigert oder sie im Unterricht systematisch mobbt und benachteiligt, um ihnen den Notendurchschnitt zu verhageln.

Wie ist das eigentlich heute? Wer kriegt die Stipendien, die Fördergelder? Diejenigen, die sie brauchen, oder diejenigen, die ihre Kontakte spielen lassen? Nehmen wir als Beispiel die Studienstiftung des Deutschen Volkes:
"Circa 80 % der Stipendiatinnen und Stipendiaten stammen aus einem akademischen Elternhaus."
Die Stiftung wird zu 90% aus öffentlichen Mitteln, aus Steuergeldern finanziert. d.h. auch von den Steuergeldern der diskriminierten "Arbeiterschicht" (2011: 70.783.352 Mio Euro).
Die Stipendiaten der Stiftung können selbstverständlich über ein breites Netzwerk an Förderern verfügen, die ihnen lukrative berufliche Positionen und Aufträge vermitteln.
Gerhard Roth, von 2003 bis 2011 Vorsitzender der Studienstiftung, geht laut Magazin "Hintergrund", 2. Quartal 2013, S. 27, "davon aus, dass sich Intelligenz vererbt, und die sei in der Arbeiterschicht nun mal niedrig." Ich glaube, eine solche Einstellung nennt man gemeinhin  rassistisch.

Ich selber wurde während meines Studiums gefragt, ob ich mich für ein Stipendium der Studienstiftung vorschlagen lassen möchte. Ich habe abgelehnt. Und zwar hauptsächlich aus folgendem Grund: Ich wollte unabhängig bleiben, vor allem im Denken. Durch die Inanspruchnahme eines staatlichen Stipendiums hätte ich mich lebenslang der Institution und dem Staat verpflichtet gefühlt. Ich hätte meine Integrität auf's Spiel gesetzt. Niemand bekommt ein Stipendium ganz ohne eine Gegenleistung. Der Stipendiat wird natürlich mit besseren Berufs- und Karriereaussichten belohnt, aber er hat im  Gegenzug gefälligst dafür auch loyal zu sein. Systemkonform. Sowie z.B. Bas Kast, dessen Buch ich hier besprochen habe. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes ist, wie alle anderen Studien- und Bildungsstiftungen auch, nichts anderes als eine Kaderschmiede.
"SPIEGEL ONLINE: Stipendiaten kommen oft aus gut situierten Akademikerhaushalten - Sie auch? 
Paaßen: Meine Eltern haben beide studiert und arbeiten jetzt als Angestellte, mein Vater als Altenpfleger, meine Mutter als Hauswirtschafterin. (...) 
SPIEGEL ONLINE: Warum engagieren Sie sich bei "Stipendienspenden" 
Paaßen: Stipendien verkommen immer mehr zu einer Elitenprämie. Es geht nur noch darum, die Besten eines Jahrgangs zu fördern. Ich fände es besser, wenn wir sagen: Wir fördern diejenigen, die aufsteigen sollten, weil sie eine Begabung haben, und sorgen so dafür, dass die Gesellschaft insgesamt solidarischer wird." (SPIEGEL online: "Widerstand der Stipendiaten: Mehr Geld? Nein, danke", 30.09.2013)
Das "Deutschland-Stipendium" wird je zur Hälfte vom Staat und von der Privatwirtschaft finanziert.  Man darf davon ausgehen, dass auch hier Arbeiterkinder systematisch aussortiert werden.
"Katja Urbatsch stammt aus einem nicht-akademischen Elternhaus und hat trotzdem studiert."
Die Verwendung des Wortes "trotzdem" in diesem Satz spricht Bände. Es muss in einem Land, das sich als demokratischer Rechtsstaat versteht, das die UN-Menschenrechtscharta und den UN-Sozialpakt unterzeichnet hat, eine Selbstverständlichkeit sein, dass intelligente Kinder studieren können, was immer sie wollen, unabhängig davon, was ihre Eltern beruflich machen. Noch vor einigen Jahrzehnten war das auch der Fall. Heute müssen sich Bildungsaufsteiger für ihre Herkunft, ihr Elternhaus rechtfertigen. Die Fragen in diesem Interview mit Heinz Buschkowsky sind reine Stichelei, Zeichen versteckter Häme, Buschkowsky reagiert defensiv:
ZEIT: Sie sind in einer Kellerwohnung hier in Neukölln aufgewachsen...  
Buschkowsky: In den fünfziger Jahren haben viele Menschen in Kellern gewohnt. 
ZEIT: Sie sind ein richtiger Aufsteiger? 
Buschkowsky: Ja, und ich schäme mich dessen nicht. 
(ZEIT online: "Heinz Buschkowsky. "Da helfe ich gerne beim Kofferpacken", von Özlem Topcu und Heinrich Wefing, 26.09.2012)
Ende der 80er Jahre habe ich ein Referat über "Der Flug der Eule. 15 Thesen über Bildung" von Jürgen Mittelstraß vorgetragen. Meine These war: Diese 15 Thesen dienen der Legitimation von Chancenungleichheit. Aufklärung ist für Mittelstraß nur durch Bildung möglich, und Bildung ist für ihn nur denkbar im Rahmen des dreigliedrigen Bildungssystems. Keine Bildung durch Lebenserfahrung, durch praktische Arbeit, durch Reisen, nein, die schnöde Schulbildung ist hier gemeint. Aufklärung, ja bitte, aber nur für die Eliten. Denn dass das deutsche Gymnasium die Mittel- und Oberschichtskinder systematisch bevorzugt und Arbeiterkinder benachteiligt, hat sich mittlerweile sogar bis in die Leitmedien herumgesprochen. Diese 15 Thesen sind unter dem Strich nichts anderes als die Pervertierung der Idee der Aufklärung, der Idee, dass die Menschenrechte für alle Menschen gleichermaßen ungeachtet ihrer Herkunft gelten. Ich sprach aus eigener Erfahrung, denn ich bin selber von meinen damaligen Lehrern massiv diskriminiert worden. Keiner der Seminarteilnehmer hat verstanden, wovon ich rede, erst recht nicht der Dozent. Diese gepamperten Mittelschichtsgören saßen da auf ihren Stühlen und glotzten verständnislos. Ich habe beide Mittelstraß-Bücher, die ich für das Referat gekauft hatte, hinterher weggeworfen. Bücher von Menschen, die mir mein Recht auf Bildung aufgrund meiner familiären Herkunft von vornherein absprechen wollen, sind verfassungsfeindlich, anti-aufklärerisch, reaktionär und gehören in den Müll.

Es führt kein Weg an dem Befund vorbei: Deutschland ist eine prämoderne Klassen- und Ständegesellschaft, in der die familiäre Herkunft, der"Stallgeruch" über den Bildungs- und Karriereweg entscheidet und nicht die formale Qualifikation, die Leistung. Dieser Sachverhalt ist mehr als dutzendfach in nationalen und internationalen Studien belegt worden, ich zitiere aus Platzgründen nur einige wenige Veröffentlichungen. Zunächst ein Interview mit dem Soziologen Michael Hartmann auf ZEIT online vom 28.02.2013:
ZEIT ONLINE: Welche Faktoren entscheiden darüber, ob jemand den Aufstieg nach ganz oben schafft? 
Michael Hartmann: Zunächst: Wer in die Elite will, muss an die Universität. Über 90 Prozent der deutschen Eliten haben heute einen Hochschulabschluss. Aber sobald der Hochschulabschluss in der Tasche ist, zählt vor allem der richtige Stallgeruch. In der Soziologie nennen wir das Habitus: Das Wissen um die versteckten Regeln und Mechanismen an der Spitze, um das, was dort en vogue ist, ein breiter bildungsbürgerlicher Horizont, souveränes Auftreten. Das bevorzugt Kinder aus dem Bürger- und Großbürgertum.(...) 
ZEIT ONLINE: Elite-Universitäten stehen jedem offen. Schafft die Exzellenzinitiative also mehr Chancengleichheit? 
Michael Hartmann: Nein, die Exzellenzinitiative wird die Elitenbildung in Deutschland noch ein Stück ungerechter machen. Eliten in Deutschland werden in Zukunft vorwiegend über diese Universitäten rekrutiert werden. Und der internationale Vergleich zeigt, dass solche Leuchtturm-Hochschulen in erster Linie die locken und fördern, die wohlhabende und erfolgreiche Eltern haben, Kinder aus dem Bürger- und Großbürgertum. Herkunft und nicht Leistung ist ausschlaggebend für die Aufnahme.
Bereits die Schulbildung in Deutschland ist hochgradig selektiv und ideologiebestimmt.
"Denn »nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält« – so warnt der Göttinger Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke schon seit Langem –, »benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu«." (DIE ZEIT, "Lehrer: Doch, er ist wichtig", Nr. 45, 03.11.2011)
Für die Universitätsausbildung (der Lehrbetrieb und die Professorengehälter werden übrigens auch von den Steuergeldern der nicht-akademisch gebildeten Erwerbstätigen finanziert!) gilt: Wer hat, dem wird gegeben.
"Laut einer im Jahr 2010 erschienenen, weiterhin aktuellen Allensbachstudie zur Studienfinanzierung erhalten schon etwa sechs Prozent aller Studenten ein Stipendium. Die große Mehrheit stammt aus Akademikerhaushalten. „Viele Akademikerkinder sind durch ihr Elternhaus bereits bevorzugt, durch mehr Unterstützung in der Schulzeit und auch finanziell”, sagt der Stuttgarter Stipendienstifter Thomas Bezler. „Für Studierende, deren Lebensweg nicht so gerade verläuft, gibt es sehr wenig Angebote.“ "(FAZ online, "Stipendien: Außenseiter dringend gesucht", 04.11.2013)
Welchen Exotenstatus mittlerweile Studenten aus Arbeiterfamilien an den Unis haben, zeigt dieses skandalöse Beispiel von "didaktischen Empfehlungen zum konstruktiven Umgang mit Diversity" an der FU Berlin.
"Ehe ich auf die FU-Website hingewiesen wurde, war mir nicht bewusst, dass ich einer spezieller Pflege bedürfenden Minderheit angehöre; niemand an der Universität hätte mich dergleichen jemals (und sei es auch nur in Andeutungen) spüren lassen. Was wir hier erleben, scheint die Geburt einer Minderheit zu sein. Aus den Empfehlungen der FU-Diversitätler scheint sich ganz klar zu ergeben, dass man zumindest dort davon ausgeht, dass meinesgleichen eher dumme Fragen stellt und Fremdwörter nicht versteht. Man muss hoffen, dass sich solche Stereotypen nicht von der Diversitätsabteilung zu den Fachwissenschaften ausbreiten."
Wie durchlässig ist die deutsche Gesellschaft? fragt der Tagesspiegel am 20.10.2010. Gar  nicht, muss die Antwort lauten. Vor allem im Vergleich zu den Verhältnissen von vor 30 Jahren.
"Ist Deutschland sozial mobil? Nein, jedenfalls nicht im internationalen Vergleich: In keinem anderen Land, über das es Untersuchungen gibt, schreibt Pollak, blieben die Menschen so stark in der Position hängen, die schon ihre Eltern hatten. Daran habe sich über Jahrzehnte auch nichts verändert – was übrigens auch für soziale Abstiege gilt. Interessant ist aber, dass die Gesellschaft schon mobiler war als heute: In Ost- wie Westdeutschland – die Studie hat die Geburtsjahrgänge 1920 bis 1978 ausgewertet – stieg mehr als ein Drittel der Männer, die heute 70 bis 80 Jahre alt sind, sozial auf. Im Osten, wo auch die Frauen häufiger aufstiegen als im Westen, waren es sogar etwa 45 Prozent. Für die in den 1940ern und 50ern geborenen Männern lag der Wert auch im Westen bei über 40 Prozent, bei den Frauen erreichte er etwas später 35 Prozent und blieb dann auf diesem Niveau. In den jüngeren Jahrgängen, unter den heute 32- bis 40-Jährigen wird die soziale Offenheit deutlich geringer, im Osten sogar in dramatischer Weise, wie es in der Studie heißt. Und oft geht es abwärts – 30 Prozent der jüngeren Ostdeutschen haben sozialen Abstieg erlebt.Für die vergleichsweise große Unbeweglichkeit der deutschen Gesellschaft macht die Studie vor allem die hohe Bildungsungleichheit verantwortlich, wie sie schon die Pisa-Untersuchungen herausarbeiteten. In Deutschland seien Positionen stark an bestimmte Abschlüsse gebunden; wer sie nicht vorweisen kann, fällt durch den Rost. Dass Berufs- und Universitätsausbildung meist in einen bestimmten Beruf „kanalisieren“, dazu oft einen, für den die Eltern Vorbilder lieferten, mache das Land sozial unbeweglicher."
Hier noch ein Zitat aus der ZEIT vom 10.10.2013
"Deutschland gehört zu den Ländern in Europa, in denen der Bildungsaufstieg am schwersten ist. Siebzig Prozent der Studenten in Deutschland haben Eltern, die ebenfalls studiert haben. Nur 17 Prozent der Studenten stammen aus Arbeiterfamilien. Insgesamt schaffen nur ein Fünftel aller Kinder einen besseren Abschluss als ihre Eltern."
und auf ZEIT online vom 30.09.2013 zum Thema Arbeitskräftepotenzial:
"Im Bereich Bildung belegt es allerdings nur Platz 19. Grund ist die Undurchlässigkeit im Bildungssystem. Noch immer ist es schwer, zwischen den Schulformen zu wechseln. Frei nach dem Motto: einmal Hauptschule, immer Bildungs- und Arbeitsmarktverlierer. Noch immer machen vor allem Kinder aus Haushalten mit hohem Einkommen und einem hohen Bildungsgrad der Eltern Abitur. Noch immer beginnen vor allem Kinder von Akademikern ein Studium. Und noch immer ist es mühsam, das Abitur über den zweiten Bildungsweg zu machen oder zu studieren. Kaum besser sieht es aus, wenn die erste Berufsausbildung abgeschlossen ist. Eine berufliche Neuorientierung im Erwachsenenleben ist hierzulande schwer."
Schließlich soll hier noch einer dieser Arbeiterkind-Exoten zu Wort kommen, der es gewagt hat, trotz eines gegenteiligen Lehrer-Urteils an die Uni zu gehen, um Journalist zu werden.
"Ich erzähle das, weil ich der Meinung bin, dass jeder Mensch die Chance haben sollte, etwas aus seinem Leben zu machen. Im deutschen Bildungssystem aber gibt es etwas, das dem im Weg steht: die Herkunft. Die Macht der Vergangenheit. (...) Von 100 Akademikerkindern schaffen 71 den Sprung auf die Universität,von 100 Nichtakademikerkindern nur 24. Das ist die deutsche Wirklichkeit im 21. Jahrhundert. Diese Zahlen sind kein Resultat unterschiedlicher Intelligenz. Dutzende Studien belegen, dass die Kinder von Fließbandarbeitern, Verkäuferinnen und Handwerkern, von Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und Migranten auch bei exakt gleicher Leistung schlechter benotet werden. Wo Akademikerkinder locker durchkommen, bleiben die anderen hängen. Sie stolpern in Prüfungssälen und Klassenräumen, Lehrerzimmern und Elternhäusern über unsichtbare Hindernisse." (...) »Kinder von Facharbeitern oder ungelernten Arbeitern [...] existieren an den Journalistenschulen nicht«, heißt es in einer Dissertation der Technischen Hochschule Darmstadt. 85 Prozent der Journalistenschüler stammen aus einem »hohen oder gehobenen Herkunftsmilieu«, 15 Prozent stellt die »mittlere Herkunftsgruppe«." (DIE ZEIT, "Chancengleichheit: Ich Arbeiterkind", Nr. 5, 24.01.2013)
In demselben Artikel verweist der Autor auch auf den blinden Fleck, die grotesk verengte Wirklichkeitswahrnehmung der heutigen Journalistengeneration. Seine Beobachtung trifft voll und ganz zu: Die Vertreter dieser "Milchbrötchen-Generation" verschaffen sich durch allerlei kurzweilige Reportage-Ideen - eine Woche ohne Social Media, einen Monat mit Hartz4, drei Monate ohne Geld durch Europa trampen - einen Kick, um in ihrer saturierten Kuschelhöhle auch einmal so etwas zu verspüren wie echte, existenzielle Probleme.

Exkurs

An dieser Stelle dokumentiere ich ein paar Erinnerungen an die  "unsichtbaren Hindernisse", denen ich während meiner  Schulzeit 1974-1983 (Schulleiter: Christian Hülsen) am Ludwig-Meyn-Gymnasium, Uetersen, Kreis Pinneberg, ausgesetzt war.

Es handelte sich um ein "naturwissenschaftliches Gymnasium für Jungen und Mädchen". Letztere Schülergruppe war nicht von allen Lehrkräften gern gesehen. Zum Beispiel der Physiklehrer, Herr G., ehemaliger Fallschirmspringer bei der Bundeswehr mit Napoleonfrisur. In unserem Physikgrundkurs waren wir drei Mädchen. Jede bekam im ersten Halbjahr eine glatte Fünf. O-Ton Herr G.: "Meiner Meinung nach haben Mädchen auf einem Gymnasium nichts zu suchen" (vor dem versammeltem Kurs). Bei meinem vorherigen Physiklehrer Herrn N. hatte ich noch eine Drei, weil mich das Fach tatsächlich interessierte, vor allem die Quantenphysik.

Diese Schule mit dem damaligen vorwiegend reaktionären Lehrkörper war für mich  - musisch und sprachlich begabt - der reine Horror. Vorwiegend Frontalunterricht.  So etwas wie eine  oder Arbeitsgruppen gab es am LMG nicht, eine einzige Projektwoche wurde erst auf der Oberstufe durchgeführt. Musikunterricht fand in unserem Jahrgang nur in den ersten 2 Jahren statt. Ich war vor allem in den höheren Klassen eine der Stillen und Gehemmten, auch aufgrund eines extremen Überbisses (der später chirurgisch und kieferorthopädisch korrigiert werden musste) und eines dadurch verursachten Sprachfehlers, über den sich Herr G. vor versammelter Klasse lustig gemacht hatte.

Der Spitzname meiner Mathematiklehrerin: Der "Nerzmantel". An den Realnamen kann ich mich nicht mehr erinnern. Ihre Spezialität war es, schwächere Schüler vorn an der Tafel "vorzuführen" und zu demütigen. Schwarze Pädagogik vom Feinsten. Das hat sie auch mit mir versucht. Ich sollte ihr mein Aufgabenheft vorlegen und dann eine Grafik an die Tafel malen, da ich es versäumt hatte, die Grafik wie befohlen vom Mathematikbuch ins Aufgabenheft zu übertragen. Da ich mir die Grafik vorher in der Pause angesehen hatte und ein gutes fotografisches Gedächtnis habe, gelang es mir, die Grafik fehlerfrei an die Tafel zu zeichnen. Der "Nerzmantel" war sichtbar verärgert.

Da meine Versetzung beim Übergang auf die Oberstufe durch zu schlechte Noten in den Naturwissenschaften gefährdet war, musste ich zunächst Nachhilfe in Mathematik und dann auch Physik nehmen. Die Nachhilfestunden musste ich zur Hälfte von meinem Taschengeld bezahlen. Zum Elternsprechtag, bei dem die Nachhilfe in Mathematik angeraten wurde, musste ich meinen Vater, der eine Einladung erhalten hatte, förmlich mitschleifen. Er saß dann, ein Kriegsflüchtling aus Danzig, Posthauptsekretär mit 1,90 Meter Körpergröße und langjähriger örtlicher Club- und Kreisschachmeister, vor dem "Nerzmantel", eingeschüchtert wie ein Schuljunge.

Der Biologielehrer P. hatte unserem Grundkurs im letzten Halbjahr vor dem Abitur vorgeschlagen, dass wir uns unsere Abschlussprüfungsthemen selber aussuchen. Was eigentlich nicht erlaubt war, denn es sollte aus dem gesamten Themenspektrum geprüft werden. Wir sollten ihm einen Zettel mit den von uns gewählten zwei Wunschthemen übergeben. Das habe ich getan und dann ausführlich und intensiv für meine Themen gelernt. In der mündlichen Abiprüfung bekam ich aber ein anderes Hauptthema und wurde dann aufgrund meines offenkundigen Nicht-Wissens von Herrn P. vor den versammelten Beisitzern bloßgestellt und lächerlich gemacht. Mein eigentliches Wunschthema Anthropologie wurde, wie ich später erfuhr, an eine Mitschülerin vergeben, die bei den Prüfungen nach mir an die Reihe kam. Ihr Vater war, soweit ich mich erinnere, Polizeikommissar.

Während ich in Deutsch durchgängig gut bis sehr gut war, in den Klausuren nie eine schlechtere Note als drei plus, (mein Deutsch-Leistungskurslehrer vergab grundsätzlich keine Einsen, wie er uns stolz mitteilte), schrieb ich in der Abschussprüfung eine 3 minus. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall war.

Grauenvoll war meistens auch der Sportunterricht; hier haben meine Lehrerinnen ihren Sadismus voll ausgelebt, nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen Mädchen, mit denen ich befreundet war. Ich war zeitweise im Leichtathletik-Verein und nahm an Wettkämpfen teil, bekam aber trotzdem im Leichtathletik-Halbjahr nur eine Drei.

Das Zeitfenster der sozial-liberalen Koalition und der Brandt-Kanzlerschaft, der Öffnung von höheren Bildungswegen für Kinder von Arbeitern und kleinen Angestellten war zu kurz, um einen Bewusstseinswandel anzustoßen. Die Lehrkräfte waren vielfach dieselben wie vor der 68er Revolution, und sie blieben einfach auf ihren Posten sitzen und säuberten die Lehranstalt von Schülern wie mich, völlig unbeeindruckt von neuen pädagogischen Lehren und -theorien, wenn nicht gar trotzig nach dem Motto: Jetzt erst recht.

Man konnte in dieser Zeit die Empörung der Lehrkräfte am LMG über die "neuen Sitten" spüren, insbesondere Empörung über die reformierte Oberstufe und das Kurssystem, über die Einführung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes mit dem sogenannten Schülerbafög als Vollzuschuss - vielen Lehrern passte einfach die ganze politische Zielsetzung nicht, die Erhöhung der Chancengleichheit, die Tatsache, dass da auf einmal so ein schmuddeliges Pack im Klassenzimmer saß.

Ich hatte in der Literatur öfter Geschichten von begabten Menschen gelesen, die versuchten, sich hochzuarbeiten (Bildungsaufsteiger), und deshalb Respekt, sogar besondere Unterstützung erfuhren, weil sie im Gegensatz zu anderen Privilegierteren faktisch vom ersten Tag ihres Lebens mehr Widerstände, auch innerhalb des Familienverbunds überwinden mussten.

Auf meiner Schule erfuhr ich das Gegenteil von Respekt, nämlich hemmungsloses Mobbing sowohl von Seiten der Schüler, als auch, tolles Vorbild, von Seiten einiger Lehrer, Geringschätzung und Verachtung. Das war nicht einfach nur Gleichgültigkeit oder mangelnde Sensibilität, sondern der blanke Hass. Abgesehen von der offensichtlichen Motivation des klassenspezifischen Konkurrenzdenkens, dem Abschotten der Akademiker-Arbeitsmärkte, ist dieser Hass der Lehrer auf Bildungsaufsteiger möglicherweise psychologisch zu erklären mit der Verleugnung eigener nicht-akzeptierter Anteile, mit der eigenen kleinbürgerlichen Herkunft, die unter allen Umständen im akademischen großbürgerlichen Milieu, dem man sich als Typus des autoritären Charakters (Erich Fromm) devot unterwirft, verleugnet werden muss. Daher überwiegt statt Solidarität mit der eigenen Klasse, mit den Wurzeln der eigenen Identität, der Wille zur Vernichtung derer, die den Lehrern den Spiegel vorhalten: Ich bin wie du, wir haben dieselben Wurzeln.

Erschwerend hinzu kamen in meinem Fall, aber auch bei zwei weiteren mit mir befreundeten Schülerinnen zerrüttete Familienverhältnisse (Scheidung, Alkoholismus des Vaters). Die eine Schülerin kam nur bis zur Fachhochschulreife, die andere musste die Abiturprüfung wiederholen. Ich war tatsächlich zusammen mit einer weiteren Freundin, der Tochter eines italienischen Gastarbeiters (einer sehr musikalischen Geigerin) fast das einzige Mädchen aus einem Nichtakademiker-Elternhaus, die es ohne Sitzenbleiben und Prüfungswiederholung durch die Schulzeit geschafft hat, und das bei einem großen Abi-Jahrgang von ca. 80 Schülern.

Die offene Diskriminierung und Selektion auf dem LMG traf auch Ausländerkinder extrem. In meiner Heimatstadt gab es, wegen der Nähe zu Hamburg, eine große Zahl türkischer Migranten. Zwei türkischen Geschwistern, zwei nette, aufgeweckte, lernfreudige Mädchen, habe ich Nachhilfeunterricht gegeben, damit sie den Übergang auf das Gymnasium schaffen. Ich sah die beiden noch in den ersten beiden Jahren der Orientierungsstufe auf dem Schulhof, aber danach waren sie von der Schule verschwunden. Innerhalb des gesamten Abiturjahrgangs 1983 gab es nicht ein einziges Migrantenkind, auch nicht bei den Jungen.

Wenn ich mir all diese Erlebnisse rückblickend vergegenwärtige, nicht nur meine eigenen, sondern auch die anderer SchülerInnen, kann ich nur zu folgendem Schluss kommen: Ziel eines Teils der Lehrerschaft war es, Mittelschichts- und Akademikerkinder zu fördern, Unterschichtenkinder dagegen zu unterdrücken und möglichst schnell aus der Schule zu mobben, und wenn das nicht klappte, so wie bei mir, die Schüler ungerecht zu benoten, um den Abi-Schnitt zu versauen.

Bei mir hat man es zwar nicht geschafft, mich spätestens in der 10. Klasse "abzusägen", dafür hat man meinen Notenschnitt versaut, damit ich nicht auf die Idee komme, ein prestigeträchtiges NC-Fach zu studieren. Meine jüngere Schwester dagegen musste es u.a. hinnehmen, dass ihr Geschichtslehrer (derselbe, den ich in der Oberstufe hatte) sie schlecht benotete, weil ein Mitschüler von ihr abgeschrieben hat. Ich wiederhole: Nicht weil sie selber abgeschrieben hat, sondern weil sie jemanden abschreiben ließ. Sie wurde auch von anderen Lehrern massiv gemobbt und hat das Gymnasium mit der Fachhochschulreife völlig frustriert verlassen. 

Exkurs Ende


Welche Jahrhundertwerke haben uns die früheren Herrscher, die geistlichen und weltlichen Würdenträger, die adeligen Gutsbesitzer und Ministrialbeamten, die Bildungsbürger, die "Stützen der Gesellschaft", die "Leistungsträger" hinterlassen, außer einer pompösen Grabstelle?

Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein waren die Biografien kreativer Denker und Literaten bunt und vielfach gebrochen, viele haben mehrere Berufe ausgeübt. Die Gesellschaften waren wesentlich offener, toleranter und vor allem nach oben durchlässiger. Es konnte der Sohn eines Schmieds Medizin (Marcel Aymé) und der Sohn eines Schneiders Rechtswissenschaften studieren (Jean Anouilh). Umgekehrt findet man Söhne und Töchter von Ärzten, Pfarrern und Juristen, die eine "brotlose Kunst" studierten oder Schriftsteller wurden. Kaputte Kindheiten (Jonathan Swift, Charles Baudelaire, Honoré Balzac) führten noch nicht unmittelbar zur Pathologisierung, ins gesellschaftliche Abseits, sondern in die Avantgarde. Der nomadische Lebensstil, das Reisen diente der Persönlichkeitsentwicklung, der Erweiterung des Horizonts, es wurden private Studien betrieben um des Erkenntnisgewinns willen und nicht, um damit später in einem Bewerbungsgespräch zu punkten. 

Heutige Biografien dagegen legen Zeugnis ab von einer unglaublichen Verflachung des Lebens, von einer bornierten, eindimensionalen, glattgebügelten, normierten Massengesellschaft, die keine Charaktere mit Ecken und Kanten, keine reflektierten, scharfsinnigen Denker mehr hervorbringen und auch gar nicht mehr zulassen kann, in der jeder, der in irgendeiner Art über den Durchschnitt hinausragt, als Außenseiter gnadenlos aussortiert und an den Rand geschoben wird, in der Konformismus, geistiger Inzest, Schmalspurkarrieristen regieren, in der Sohnemann und Töchterlein brav in die Fußstapfen der Eltern treten, weil es einfacher ist, weil es der Weg des geringsten Widerstands ist, und weil man dadurch schneller nach oben kommt.

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