Wenn die Zahl derer, die mitzureden haben, ins Unermessliche
steigt, dann hören die auf zu reden, die etwas zu sagen haben.
Verfasser unbekannt
Damara, Namibia |
Erst heute beginnen wir allmählich zu erkennen, wie sehr das Internet Sprache und Denken, das Verhalten, die Kommunikationsformen und sozialen Normen, wenn nicht gar die Persönlichkeitsstruktur beeinflusst. Die sofortige weltweite Veröffentlichung und in der Folge meist auch Kommentierung jedes gedanklichen Furzes kann u.a. zu Persönlichkeitsstörungen wie permanente Selbstüberschätzung der eigenen Bedeutung bis hin zum Größenwahn führen. Ältere Wenig- oder Gelegenheitsforisten brauchen das Internet und speziell Foren, Blogs und Chatrooms nicht, um sich und anderen ihre eigene Existenz zu beweisen. Typisch ist z. B. die Arroganz und Überheblichkeit der sogenannten digital natives beim Austeilen von unqualifizierten Urteilen, die argumentativ oft gar nicht begründet sind. Auch die Immunität gegenüber Kritik ist auffällig. Ich bezweifle sogar, dass Jüngere wissen, was ein Argument, eine allgemein nachvollziehbare Begründung überhaupt ist.
Die Beiträge in
offenen Internetforen sind öffentlich. Jeder kann sie lesen. Was das heißt, darüber gibt es in der so
genannten Internet-Generation offenbar kein Bewusstsein mehr. Das macht sich
eben in erster Linie bei Sprache und Artikulationsfähigkeit bemerkbar. Manche
Beiträge lesen sich wie Auszüge aus einem privaten Email-Schriftverkehr. Aber
ein öffentliches Forum ist eben nicht einfach nur die Erweiterung des eigenen
Zimmerchens bei Mama und Papa. Noch gibt es klare Regeln im öffentlichen Umgang
miteinander. Das kann jeder von uns jederzeit austesten. Würde jemand einen
anderen fremden Menschen auf der Straße oder in einem Café so anpöbeln wie im
Forum, bekäme er wahrscheinlich einen Tritt gegen das Schienbein oder sonst
wohin – zumindest verbal.
Das Bewusstsein
darüber, dass in Foren zumindest tagsüber immer wesentlich mehr Gäste mitlesen
als registrierte Benutzer, fehlt oder ist unterentwickelt. Ob es uns passt oder
nicht, wir werden von anderen ständig danach beurteilt, was wir tun, was wir
sagen und wie wir es sagen. Ein guter Freund, der von mir am Telefon angeschnauzt wird, weiß womöglich auch, dass ich nur einen schlechten Tag gehabt habe und
kann meine Worte dementsprechend einschätzen, ein anonymer Foren-Gast, der die Beiträge nur mitliest, oder ein aktiver Forist
kann das nicht.
Außerdem lässt sich
ein Desinteresse an der Meinung anderer beobachten, oder vielleicht auch die
komplette Unfähigkeit, andere Standpunkte anzuerkennen als gleichberechtigte
Standpunkte neben dem eigenen, d.h. es fehlt die Fähigkeit zum Objektivieren.
Statements werden abgegeben – nicht, um andere zu überzeugen, sondern einzig
und allein um das eigene Ego zu stärken, das Revier zu markieren (die Mehrzahl
der Foristen ist männlich): Hier stehe ich und weiche mit meiner Meinung keinen
Millimeter von der Stelle.
Die älteren von uns
haben naturgemäß ein anderes Verhältnis zu Zeit, insbesondere zur Freizeit,
weil die eben für die meisten sehr knapp bemessen ist. Da überlegt man es sich
doch lieber genauer, ob man vor dem Bildschirm sitzen und sich durch
unqualifizierte, sinnleere Beiträge klicken will.
Wer stundenlang am
Bildschirm sitzt und Forumsbeiträge in die Tastatur kloppt, tut dies in der
Regel allein. Er/sie kommuniziert während dieser Zeit deshalb logischerweise
nicht mit anderen leibhaftig physisch anwesenden Menschen, also nicht mit dem Partner, nicht mit der Freundin, nicht mit den Kindern oder sonst irgendeinem
lebendigen Wesen wie etwa einem Haustier. Außerdem trägt er/sie während des
Postens im Allgemeinen nicht durch produktive Arbeit zum Bruttosozialprodukt
bei, erst recht nicht zu nachbarschaftlicher oder ehrenamtlicher Hilfe, und
er/sie unterstützt nicht durch Warenkonsum den Wirtschaftskreislauf. Um das zu
erkennen, muss man nur Frequenz und Uhrzeit der
Postings analysieren. Besonders vor
dem Hintergrund des letztgenannten Sachverhalts kann es sich bei den meisten
full-time-Foristen nicht um "systemrelevante" User handeln.
Nicht wenige Foren-User dazu neigen dazu, aufgrund der
Zahl der Beiträge und der positiven Bewertungen von einer nachweislichen
Meinungsführerschaft zu einem Thema innerhalb eines Threads Rückschlüsse auf
eine allgemeine gesellschaftliche Meinungsführerschaft zu ziehen. Das ist ein
Trugschluss - zumindest solange es in dieser Welt noch Menschen gibt, die in
der Zeit, in der andere im Netz unterwegs sind, Bettpfannen ausleeren,
Starkstromleitungen reparieren, in einer Werkhalle Autos montieren oder was auch
immer. Man mag diesen Umstand nun bewerten, wie man will, aber es wäre gut, ihn
zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen. Die Netz-Community dürfte so
ziemlich in allen Foren der Welt aus naheliegenden Gründen bei netzaffinen
Themen die Meinungshoheit haben, die sich jedoch banalerweise in erster Linie
aus ihrer verstärkten Online-Präsenz herleitet. Das ist vielleicht einer der
Gründe, warum so wenig, so schlecht oder gar nicht argumentiert wird, denn
Gleichgesinnte muss man nicht mehr überzeugen. Ein idealer Nährboden also für blinde Flecke.
(Geschrieben ca. 2008)
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