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Sonntag, 30. Juni 2013

Ausverkauf


"The fires of Isengard will spread. And the woods of Tuckborough and Buckland will burn. And... and all that was once green and good in this world will be gone. There won’t be a Shire, Pippin."
Merry, in: The Two Towers, Lord of the Rings, Regie: Peter Jackson, 2002



Eisblumen
Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks hatten viele Menschen gehofft, dass nun ein neues goldenes Zeitalter beginnen würde. Das Ende des kalten Krieges, so stellt sich jedoch heraus, war in Wirklichkeit der Beginn eines neuen. Wie sagte Warren Buffet: "Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir werden gewinnen" (”There’s class warfare, all right, […] but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning”, im Interview mit Ben Stein in der New York Times, 26. November 2006)

Der Wegfall des wie unvollkommen in praktischer Hinsicht auch immer gearteten Korrektivs, der Antithese zum Kapitalismus entfaltet eine gewaltige Unwucht. Wie ein Planet, der aus dem  Gleichmaß seiner Bahn geworfen wird und hilflos und ohne Kontrolle im All herumtrudelt.

Die vom Großkapital gewollte und politisch durchgesetzte Globalisierung bedeutet faktisch das Herunterbrechen auf den kleinsten, gemeinsten Nenner, globale Ausbeutung aller Flora und Fauna auf dem Planeten. Die Kosten der psychosozialen Folgen hat noch nie jemand berechnet.

Die Globalisierung ist eine Erfindung von Leuten, die bei der Zahl von 7 Milliarden Weltbürgern nur an 7 Milliarden potentielle Konsumenten denken können oder potentielle Arbeitssklaven. Oder potentielle Organspender. Eine Ressource wie Erdöl oder Edelmetalle, die es gewinnbringend auszubeuten gilt.

Es werden heute nicht nur Todeskandidaten als Organspender ausgeschlachtet, sondern auch Häftlinge auf Bestellung getötet - das Ende der Humanität, eine Bankrotterklärung, ein Kniefall vor der Verwertungsdoktrin.
"Fahrzeuge aus dem Westen werden zu Hinrichtungsmobilen umgebaut. Ein chinesischer Autohändler etwa bietet im Internet einen Wagen einer europäischen Marke mit medizinischen Überwachungsmonitoren und Infusionsapparaten zum Verkauf an – ein schauriges Symbol für das Hand-in-Hand-Arbeiten von Henkern und Ärzten. "Die Gefängnisbehörden müssen potenzielle Spender gezielt suchen, auf Gesundheit, Blut- und Gewebetyp prüfen und sie hinrichten, solange der Tourist in China ist", schreibt der renommierte New Yorker Ethiker Arthur Caplan 2012 in dem Buch State Organs. Transplant Abuse in China: "Das ist schlicht Tötung auf Bestellung." "(Die ZEIT, "Organhandel. Herz auf Bestellung", 07.03.2013)
Diese 7 Milliarden werden aber auch ihr ganzes Leben lang Luft, Wasser, Nahrung brauchen, sie werden ihr ganzes Leben lang Abfall und einige von ihnen auch wieder neue Nachkommen produzieren, so wie wie jedes lebendige Wesen auf diesem Planeten.

Von fast allem gibt es immer mehr. Mehr Menschen, mehr Tiere, mehr Kriminelle, mehr Idioten. Mehr von Dingen, die keiner braucht, mehr Produkte, mehr Müll. Von den wirklich wichtigen Dingen gibt es immer weniger. Liebe, Aufmerksamkeit, Respekt. 

Die Globalisierung trägt Unzufriedenheit, Neid, Missgunst in die entlegensten Dörfer. Auswanderer aus Europa, Rentner, die in der Heimat nicht mehr von ihrem Geld leben können bzw. woanders billiger leben wollen, tragen ihre Ansprüche in eine Welt, die darauf nicht eingerichtet ist.

Globalisierung heißt historisch gewachsene Verschiedenheiten einebnen und gleichmachen. Sie ist grundsätzlich totalitär. Das Eigeninteresse von Konzernen, von Nationen, von Wirtschaftsstandorten muss muss unter den Bedingungen eines begrenzten Lebensraums und endlichen Ressourcen zwangsläufig immer auf Kosten der Interessen anderer, nämlich der gesamten restlichen Welt . In welcher Weise profitiere ich persönlich denn davon, dass Nestlé die gesamte Nahrungsmittelproduktion des Planeten kontrolliert? Wenn Konzerne im nationalen Grenzen ihre Monopolstellung nicht erreichen können, weichen sie auf andere Länder aus. An der zugrunde liegenden Motivation, eine global marktbeherrschende Stellung zu erlangen und auszubauen, ändert sich nichts.

Globalisierung ist die Preisgabe des Ideals, des Normativen zugunsten des kleinsten, gemeinsten, niedrigsten, schäbigsten Nenners, der untersten Stufe, es ist faktisch eine De-Evolution.

Der ideale neue Mensch in der globalen Welt ist schlaflos, gehetzt, in der Schuldenfalle, drogensüchtig, abhängig von Konsum, Aufputschmitteln, Geld, Macht, Aufmerksamkeit, abhängig von potentiellen Mobbingopfern, er ist 100% fremdbestimmt.

Wenn ein Wissenschaftler wie Stephen Hawking in der Dokumentation "Endstation Fortschritt" (Canada, 2011) allen Ernstes vorschlägt, zur Lösung der allgegenwärtigen Probleme einen neuen Planten zu besiedeln, dann muss man das als ultimative Bankrotterklärung ansehen, als unverhülltes Eingeständnis des globalen Versagens der Menschheit. Der Letzte räumt die Erde auf.


Landgrabbing


Der Planet ist bereits verkauft und verschachert, kein Plätzchen mehr frei. Die letzten Naturparadiese und Refugien werden Golfplätzen geopfert. Golfplätze für die Reichen. In Hongkong leben die Cage People auf 1 Quadratmeter. Wie die Käfighühner. Es gibt auch in Hamburg Wohnungen, wo 10 Mieter sich ein Zimmer teilen müssen. Meist sollen es illegal Eingewanderte sein, aber das wird nicht so bleiben. Während sich gleichzeitig ein einziger Vermögender ganze Inselgruppen kaufen kann und Privatstrände in Naturschutzgebieten, gern auch Wälder, Ackerland, ganze Landstriche mitsamt der Flora und Fauna, dem Wildtierbestand und dem Vieh, dazu Dutzende Wohnungen, Häuser, Grundstücke sammelt wie Briefmarken, die im Normalfall Monate, Jahre als Spekulationsobjekt ungenutzt leer stehen, unbebautes Ackerland, Industrieanlagen, Gewerbegebiete. Besitzanhäufung ist zum reinen Selbstzweck geworden, es geht nur noch darum, mehr als der lästige Konkurrent zu haben und die Habenichtse draußen zu halten.

Beim Landgrabbing wird fruchtbarer Ackerboden als Investitionsobjekt missbraucht. Vor allem Ölstaaten oder bevölkerungsreiche Länder wie China, Indien, Korea kaufen ausländisches Land. Rendite muss sein, sonst meckern die Anleger, die Spekulanten und Pensionsfonds. Ein Beispiel aus der Region, in der ich wohne: Wo früher Raps und andere Feldfrüchte angebaut worden sind, breiten sich nun in öder Eintönigkeit großflächige Maismonokulturen für Biogasanlagen aus. Monokulturen. Sie werden es nie kapieren. Familienbetriebe sterben aus. Es herrschen Zustände wie vor dem Weltkrieg, es gibt bald wieder Landjunkertum und Leibeigene. Alteingesessene Familienbetriebe können nur noch durch Zukauf rentabel bleiben, aber die angrenzenden Flächen sind schon an Spekulanten verkauft. Menschliche Arbeit auf dem Land wird durch Kapital ersetzt. Staatlich gefördert wird das Ganze auch noch, Grundbesitzer kassieren Agrarsubventionen, egal, ob sie das Land nutzen oder brach liegen lassen. Dörfliche Infrastrukturen zerfallen. Das Großkapital ist dabei, sich sämtlichen halbwegs brauchbaren Boden auf der Welt aufzukaufen, inklusive sämtlicher Rohstoffvorkommen. Nationalstaaten werden überflüssig. Den Besitzlosen bleiben nur noch die Wüsten, der Dschungel, das Gebirge, das Eis.

Der Mensch als Investitionsobjekt


Die Identifikation mit dem Aggressor ist eine der mächtigsten gesellschaftlichen und individualpsychologischen Abwehrmechanismen. Es ist die Signatur dieses Zeitalters der Hysterie und Panik. Sie sorgt dafür, dass Menschen in Diktaturen ihre Unterdrücker  verteidigen, dass deutsche Arbeitslose die FDP wählen, dass Ehefrauen sich nicht von ihren prügelnden, saufenden, glücksspielsüchtigen Männern trennen können, dass Kinder die Eltern, die sie physisch und psychisch misshandeln, ihr ganzes weiteres Erwachsenenleben lang glorifizieren, sie sorgt dafür, dass Menschen ihrem Heimatland die Treue halten, das sie an den Rand drängt und ihnen ihre Lebenschancen beschneidet.

Haben wir uns wirklich schon alle in der kurzen Zeitspanne der ideologischen Manipulation an die Perversität gewöhnt, dass unsere Lebenszeit auf Arbeits- und Renditefähigkeit reduziert und permanent in Geld umgerechnet wird? Wer einzahlt, ist per se "systemrelevant", und wenn es auch nur ein Bruchteil dessen ist, was auf steuerrechtlicher Grundlage eingezahlt werden müsste, und egal wie das Geld erwirtschaftet wird, also auch durch Korruption, Kinderpornografie, Kinderhandel, Zwangsprostitution, organisierte Kriminalität, Mafia. Wer nicht einzahlt, auch wenn der sachliche Grund dafür vielfache Diskriminierungen sind, etwa wegen Alter, Geschlecht, Nationalität, und wer somit keinerlei persönliche Verantwortung an seiner Diskriminierung zu tragen hat, gilt als Parasit.

Die Argumentation mit der Heraufsetzung des Rentenalters setzt dummdreist eine quantitativ verlängerte Lebensspanne mit einem qualitativ lebenswerten Ruhestand gleich, setzt voraus, dass der längeren Ruhestandsphase eine Lebenssituation entspricht, die es erlaubt, diesen auch zu genießen. Die Normalverdiener, die breite Masse der Bevölkerung, sollen jetzt während ihres Arbeitslebens, wo sie gesundheitlich in der Lage wären, ihr Leben zu genießen, mehr zahlen und länger arbeiten für die sehr realistische Aussicht, die letzten 5-10 Lebensjahre in Pflegeheimen gedemütigt, misshandelt und gefoltert zu werden. Die einzige Bevölkerungsgruppe, deren höhere Lebenserwartung tatsächlich mit einer zumindest nicht wesentlich verringerten Lebensqualität korrespondiert, sind in Deutschland nachweislich die höheren Beamten, also die, die Gesetze für ihresgleichen machen, sowie die Vermögenden. Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den niedrigsten und den höchsten Einkommensgruppen beträgt übrigens ca. 5 Jahre, in manchen Studien ist die Rede von 16, in Worten sechzehn Jahren. Transferleistungsempfänger sterben also 16 Jahre früher als Diplomaten, Rentner früher als Pensionäre. Soviel zum Mantra, dass "wir alle" länger leben und deshalb länger arbeiten müssen.


Der Wohnort, die Straße, das Viertel, entscheidet heute über die Kreditwürdigkeit. Das kann konkrete lebensbedrohliche Konsequenzen haben, etwa wenn ein Kredit benötigt wird, um eine ärztliche Spezialbehandlung zu bezahlen. Die dauerhafte lebenslange Diskriminierung, das Abwürgen von Lebenschancen aufgrund von schicksalhaften Unwägbarkeiten, vom Individuum nicht kontrollierbaren Lebensumständen wie Krankheit, familiäres Milieu, genetische Ausstattung, Begabungen, Geschlecht, mit anderen Worten der Sozialdarwinismus, ist heute der Normalfall.


Es gibt Psychotests in den Unternehmen, es gibt Kranken- und Lebensversicherungen, die die Lebenserwartung ihrer Versicherten in eine Währung umrechnen, es gibt Datenbanken, Adresshändler, Auskunfts- und Schnüffelinstitute, die die Kaufkraft und Konsumgewohnheiten, das soziale und das wohnliche Umfeld, das Klick- und Surfverhalten, praktisch alle Lebensäußerungen in ein Profil, eine Risikobewertung einfließen lassen. Spekulanten verdienen Milliarden mit diesen Profilen. Der Begriff human ressources verrät alles.

Je mehr die materiellen Ressourcen und Arbeitsplätze schwinden, je geringer die allgemeine Akzeptanz in der Bevölkerung für die extreme Gier und Amoralität der Mächtigen, desto brutaler, hemmungsloser wird der Druck und die Repression auf den Einzelnen. Der Betrug an den Völkern, an der Idee der Aufklärung, an der Idee der Menschenrechte vollzog sich bislang auf die schleichende, hinterhältige Art, jetzt wird die Maske fallen gelassen.

Postdemokratie


Es ist wie mit einem verstopften Klo. Je mehr Scheiße nach oben quillt – unerbittlich, unaufhörlich -, desto hektischer müssen wir die Scheiße wegschaufeln und wischen, nur um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass wir alles unter Kontrolle haben, um die Realität nicht sehen zu müssen, dass wir betrogen und belogen worden sind, dass wir uns selber haben betrügen und belügen lassen.
"Der Politik des Neoliberalismus wirft Crouch vor: „Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zuläßt, daß diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn - mehr oder minder unbemerkt - zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens.“ "(Zitat aus dem Wikipedia-Artikel über den Begriff der Postdemokratie)
Wieso naiv? Wenn hier einer naiv ist, dann Colin Crouch. Die Selbstbedienung, letztendlich die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie, der Gewaltenteilung, der Nationalstaatlichkeit ist so gewollt, gehört zum Master Plan dazu.

Die Jünger der Quasi-Religion "Leistungsgesellschaft" (und die Marktreligion ist wie jede Religion ein Machtinstrument, um Menschen in mentaler Abhängigkeit zu halten und zu kontrollieren) verkaufen uns Rente und Ruhestand als Erlösung von der Fronarbeit. Das wahre Leben soll auf später verschoben werden, damit die Machthaber uns länger kaputt machen können. Tatsächlich ist der sogenannte wohlverdiente "Ruhestand" heute die ultimative Bestrafung: Nutzlos und möglicherweise dazu noch krank? Ist im System nicht vorgesehen, zu teuer, muss weg. Es fehlen jetzt nur noch Prämien für Selbstmörder.

Das permanente Personal Ranking hat die sozialen Beziehungen bis ins Mark infiziert, die ständigen Vergleiche mit anderen, das Einordnen innerhalb einer Hierarchie, das Be-Werten (das heißt im Klartext sich selbst und anderen  Menschen einen Wert oder Un-Wert beimessen), Auf- und Abwerten, sich selber einschätzen. Was hat der andere, was habe ich, wie stehe ich da, wie kann ich mein Ranking verbessern? Es ist ein Denken, das von vornherein, vor jeder bewussten Intention, auf Abgrenzung und Ausgrenzung ausgerichtet ist. Man sucht sich keine Freunde, sondern Verbündete - gegen die anderen. Es ist ein Kriegszustand.

In den öffentlichen Medien, auch in den verbliebenen privaten Refugien tobt ein Krieg mit Worten. Es ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr möglich, eine sachliche Debatte zu führen, die von gegenseitigem Respekt geprägt ist. Weil der Kampfplatz von Manipulatoren besetzt worden ist, die jeder Verlautbarung unsachliche, unlautere persönliche Motive unterstellen (nämlich in schönster Projektion genau die, die sie selber antreibt), weil der öffentliche Raum von Tretminen durchseucht ist, von Denkverboten und ideologisch aufgeladenen Begriffen. Weil die Menschen sich (noch) nicht direkt gegenseitig an die Gurgel gehen können, weichen sie auf das Wort aus. Die atemlose Schnelligkeit der medialen Vermittlung trägt ihr Teil dazu bei, dass überhaupt nicht mehr reflektiert, sondern nur noch agiert und reagiert wird. Es geht nur noch darum, einen Gegner zu finden und ihn niederzubrüllen, egal mit welchen Mitteln.

Es hat eine weitgehende Ontologisierung von historisch bedingtem asozialem Verhalten stattgefunden. Eine paranoide Clique schmarotzt von Restbeständen kooperativen Verhaltens und zwingt dem Rest der Menschheit durch ihre strukturelle Gewaltherrschaft ihre eigene psychopathische, degenerierte Disposition auf.

Die großen Lebensrisiken, die prinzipiell jeden treffen können – Alter, Arbeitsplatzverlust, chronische Krankheiten, schwere Unfälle und Berufsunfähigkeit – sind inzwischen unbezahlbar geworden, weil erstens immer mehr Menschen von ihnen betroffen sind, und weil sich zweitens die noch nicht Betroffenen die steigenden "Risikoprämien" immer weniger leisten können, und weil drittens die politische Willensbildung ausgerechnet von denen getroffen wird, die selber gar nicht in demselben Ausmaß von diesen Risiken betroffen sein können wie der Durchschnittsverdiener, weil sie nämlich mit Hilfe der Beitragsbemessungsgrenze konsequent aus den Solidarversicherungssystemen flüchten.


Frankenstein-Ökonomie


Die Armen sind bereits abgeschrieben, zur reinen Verfügungsmasse, zum Spielball von Geschäfts- und Machtinteressen degradiert. Mal macht man auf ihrem Rücken Wahlkampf, mal profiliert man sich auf ihre Kosten als NGO, um Spenden oder öffentliche Gelder einzutreiben. Rechtlose Objekte für Manipulationen, instrumentalisiert mal von der einen, mal von der anderen politischen Seite. In früheren Zeiten hatten Arme eine eigene Art von Würde. Heute sind sie für Politik und Wirtschaft weniger wert als Nutzvieh. Resultat. Die totale Entmenschlichung. Das Phänomen gab es im Dritten Reich auch, nur innerhalb eines kürzeren Zeitrahmens. Die heutige Entwertung ist der vorläufige Endpunkt einer drei Jahrzehnte dauernden schleichenden Entwicklung, daher fällt sie kaum noch jemandem auf. Der Frosch wird langsam gekocht. Heute sind Politiker immer auch Propagandaminister. Für die noch Arbeitsfähigen gibt es faktisch keine Arbeitnehmerrechte und für den sogenannten kleinen Mann von der Straße auch keine Bürgerrechte mehr. Denn was nützen Rechte, die nicht einklagbar sind? Sie sind heute, wie alles andere auch, vom Geldbeutel abhängig. 

Patienten sind Störfaktoren für Ärzte, Pharmakonzerne und Krankenkassen. Arbeitnehmer, Verbraucher, Nutztiere (artgerechte Haltung!) sind Störfaktoren für den unternehmerischen Profit. Wähler sind Störfaktoren für Politiker. Bürgerrechte sind Störfaktoren für den Staat. Die "Umwelt", die Natur, Flora und Fauna sind Störfaktoren für die menschliche Spezies. Frauen sind Störfaktoren für männlichen Größenwahn, Männer sind Störfaktoren für weibliche Emanzipation. Kinder sind grundsätzlich nur Störfaktoren, speziell für ihre Eltern, für ihre Lehrer. Die ganze Welt ist ein einziger Störfaktor für den größenwahnsinnigen Narzissten: Alle müssen mich bewundern und haben nach meiner Pfeife zu tanzen, und wehe wenn nicht! Meine Rache ist grenzenlos!

Der mündige, das heißt sich seines eigenen Verstandes bedienende kritische Staatsbürger, Patient, Verbraucher, Wähler ist ein Schreckgespenst der Aufklärung. Das ist das Letzte, was die Herrschenden wollen. Deshalb müssen nun auch die letzten Nischen, in denen diese zarten Pflanzen wachsen können, unterminiert und zerstört werden, angefangen von der frühkindlichen Bildung, familiären Erziehung, Schulbildung bis hin zu Forschung und Wissenschaft. Systemkompatible Forschungsergebnisse werden heute auf Bestellung geliefert. Totalitäre Einstellungen von rechts wie von links überschneiden sich, gehen Hand in Hand.

Gleich gesellt sich zu gleich. Überall. In der Arbeitswelt, in sozialen Milieus, in den Wohngebieten, in den Schulen und Universitäten. So vernichtet sich die herrschende Klasse langfristig natürlich selber. Wenn keine ausreichende Zahl an  Wirtstieren mehr vorhanden ist, gegen die sie ihren fragilen Macht- und Kontrollwahn aufrecht erhalten kann, wird sie sich früher oder später selber kannibalisieren. Ein gekipptes, faulendes, stinkendes, lebloses Biotop. Da helfen auch keine unterirdischen Bunker, keine Schockfrostungen, keine Privatarmeen, keine Expeditionen zu fremden Planeten, um den Tod zu überlisten. Aber diese Klasse ist zu selbstverliebt und borniert, um selbst diese fundamentale Wahrheit wahrzunehmen, sie ist vollkommen selbstreferentiell, reproduziert sich selber, abgeschottet nach unten. Die sogenannte Leistungsgesellschaften, die haargenau das Gegenteil sind von dem, was sie zu sein vorgeben, sind vollständig undurchlässig geworden.
"Amerikanische Kapitalisten zerstören sich selbst, ihre Demokratie und als nächstes auch die Weltwirtschaft. Dieses Frankenstein-Monster beschreiben auch Daron Acemoglu und James A. Robinson in ihrem Buch „Why Nations Fail". Sie erkennen ein Muster, das sich in der Geschichte immer wiederholt: Nationen wachsen; der Reichtum konzentriert sich bei wenigen; die Elite stellt sicher, dass sie ihr Vermögen nicht verliert. Und indem sie die Türen verriegelt, durch die sie selbst an die Spitze gelangt ist, besiegelt sie das Scheitern ihrer Nation."(The Wall Street Journal: Die Frankenstein-Ökonomie zerstört den Kapitalismus", von Paul B. Farell, 27.10.2012)
Ethik ist mittlerweile ein anderes Wort für Manipulation, nämlich Menschen zu bevormunden, ihnen etwas einreden zu wollen, ihnen den freien Willen, den eigenen Verstand und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung abzusprechen unter dem Deckmantel der Solidarität – ausgerechnet jener gesellschaftlichen Instanz, die der Marktfundamentalismus seit Jahrzehnten mit aller Macht versucht auszuradieren, ganz einfach deshalb, weil sie sich seiner Logik nach nicht rechnet. Das Diktat ökonomischer Verwertung von menschlichem Leben fängt an bei der Geburt und endet noch nicht einmal mit den eigenen Tod, wie man an der Debatte um die Organspenden oder auch Sterbehilfe sehen kann. Die freie Entscheidung, wie und wo ich sterben will, was nach meinem Tod mit meinem Körper geschieht, wird ökonomischem Profitdenken untergeordnet. Ein Mensch, der die Organspende verweigert – allein die Tatsache, dass sich der Einzelne durch Mediziner, Krankenkassen, der Gesellschaft einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sieht, ist schon ein ungeheurer Skandal - wird heute als egoistisch diffamiert.

Japans Finanzminister spricht aus, was viele nur heimlich denken.
"Japans Finanzminister Taro Aso hat bei einem Treffen des Rates für die Reform der Sozialversicherung drastische Reformvorschläge geäußert. "Gott bewahre, wenn man zum Leben gezwungen ist und sterben will - man kann nicht ruhig schlafen, wenn man daran denkt, dass alles von der Regierung bezahlt wird", sagte der 72-jährige Minister bei dem Treffen am Montag. "Das Problem wird nicht gelöst, bis man sie möglichst rasch sterben lässt." Er selbst habe schriftlich verfügt, dass er "schnell sterben" wolle."

Totalitarismus


Inzwischen hat sich eine unheilvolle Dynamik der Selbsttäuschung und Abwehr entwickelt. Je mehr sich der Einzelne vom allgegenwärtigem Trash-Mainstream, von der blinden, servilen Konformität abzugrenzen versucht, ein Gegengewicht sitzen will, desto mehr wird er angefeindet, desto geifernder der Mob. Überall dasselbe Muster: ein Mensch, der sich durch irgendetwas unterscheidet vom Rest der Gruppe – Äußerlichkeiten, Begabung, Herkunft – wird stigmatisiert, abgewertet, ausgegrenzt, damit sich der Rest der Gruppe wieder gut fühlen kann, das Mittelmaß sich wieder selbst bestätigen kann. Je größer die objektive Notwendigkeit von "Nestbeschmutzern", von Systemkritikern, desto wütender wird auf sie eingeschlagen, desto vehementer die Denkverbote durchgesetzt. Ein Teufelskreis.

Alles Wissen muss heute unter dem Diktat der Effizienz, des Kosten-Nutzen-Verhältnisses sofort und mit Gewinn - nur für eine Minderheit, versteht sich - verwertbar sein. Welche ungeheuerliche Anmaßung steckt hinter dieser Denkweise, welche Borniertheit. Wer kann sagen, welches Wissen morgen relevant sein wird? Ein Gedanke, der heute abwegig erscheint, kann in 10, in 100 Jahren als bedeutsam erkannt werden. Die Beschränkung auf die eigene Lebensspanne ist per se ein blinder Fleck, eine unglaublich reduktionistische Dummheit. Sie entspricht der Eschatologie des Neoliberalismus. Alles, was nach dem Diktat der herrschenden Klasse als allein erstrebenswert gilt – Erfolg, Glück, aber vor allem Geld - , muss in der je eigenen Lebensspanne realisiert werden, alles Leben muss der kruden, sozialdarwinistischen Wettbewerbs- und Überlebenskampf-Logik unterworfen werden: mein Glück ist gleichzeitig das Unglück anderer, meinen Erfolg verdanke ich dem Misserfolg anderer, mein Gewinn ist der Verlust anderer. Ich kann nur noch als kompetent und leistungsfähig gelten, wenn ich den Rest gewaltsam unwissend und unfähig halte. Die strukturelle Ungerechtigkeit und Inhumanität muss um jeden Preis aufrechterhalten werden, sonst bricht das System komplett zusammen und entlarvt sich als das, was es ist, ein einziger riesengroßer Betrug, an jedem einzelnen von uns, an allen Menschen.
"Wenn die Geschichte etwas zeigt, dann dies, dass es keine bessere Methode gibt, auf Gewalt gegründete Beziehungen zu verteidigen und moralisch zu rechtfertigen, als sie in die Sprache von Schuld zu kleiden - vor allem, weil es dann sofort den Anschein hat, als sei das Opfer in Unrecht." (SPIEGEL online, Jakob Augstein: "Starrsinn, Machthunger, Egoismus", 25.03.2013)
Aus "Ich habe Schulden" wird "Ich habe Schuld". Die Schuldknechtschaft, dessen von Menschen erdachte,systemische Ursache der Kreditzins ist, wird ontologisiert zu einer conditio humana: in Schuld geboren, in Schuld sterben.

Unter dem Druck des weltweiten Verteilungskampfes fallen jetzt reihenweise im Dominoeffekt, Land für Land, Nation für Nation, die Masken, die fragile, zerbrechliche, in Jahrhunderten mühsam erkämpfte Zivilisation, die Regeln der Sitte, des Anstands, der Moral, die Idee der universalen Menschenrechte - alles, worauf die Menschheit zu Recht einmal stolz sein konnte, zerbröselt und schmilzt dahin, und die Fratze des Unmenschen kommt zum Vorschein, und in ihrem Schatten wird alles niedergetrampelt, was sich dem Machtwahn in den Weg stellt, die ganze belebte und unbelebte Natur, und zum Schluss Mann gegen Mann.

Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Unbestechlichkeit, Integrität, Zivilcourage, dieser aussterbende Tugendkatalog wird immer noch hochgehalten. Man fragt sich mittlerweile: Warum eigentlich? Wem wollen wir damit noch etwas vorgaukeln? Wenn doch die gesellschaftliche und ökonomische Praxis diesen Kodex täglich aufs deutlichste konterkariert. Wie lassen sich die rührend naiven Appelle an die Reichen erklären, doch endlich einmal innere Einkehr walten zu lassen und etwas von ihrem Reichtum abzugeben? Wie blind muss man denn sein, um nicht erkennen zu können, dass die Reichen jenseits aller Moral, jenseits des Kantischen Imperativs leben, denken, fühlen. Sollte in absehbarer Zeit diese amoralische Mentalität die Vorherrschaft erreichen, die gesellschaftliche Norm darstellen, werden wir und zwar wir alle in einer Welt leben, die das sogenannte finstere Mittelalter als goldenes Paradies erscheinen lässt. 

Insbesondere unreflektierte Menschen funktionieren in vielerlei Hinsicht wie Automaten. Sie projizieren ihre eigene Weltsicht, ihr Wertesystem, ihr eigenes Menschenbild umstandslos auf den Rest der Welt, den sie obendrein grundsätzlich für noch dümmer halten als sie es selber sind. Eine besondere Spielart dieses Typus sind Narzissten, die allen anderen Neid und Missgunst unterstellen, wo in Wirklichkeit das Gerechtigkeitsempfinden verletzt ist.

Je mehr gute Vollzeitarbeitsverhältnisse mit Betriebsrat und gewerkschaftlichem Schutz durch prekäre, schlecht bezahlte Jobs mit niedrigem Sozialstatus ersetzt werden, desto verbissener die Suche und Forderung nach dem optimalen Job, nach der Selbstverwirklichung mittels Karriere. Es handelt sich in Wahrheit um einen reinen Verdrängungswettbewerb. Jede Stelle wird besetzt von einem zu Lasten von x anderen, die abgewiesen werden. Für den Markt, den einer bedient, müssen andere Marktanteile abgeben. Daher auch die imperative Nötigung, sich ein Netzwerk aufzubauen. Netzwerke, die legale Korruption für jedermann, sollen die Lücke füllen und die Unsicherheit ausgleichen, die der deregulierte Arbeitsmarkt hinterlässt. Der Gedanke, dass ein Arbeitsplatz lediglich als Sicherung des Lebensunterhalts dient und die Selbstverwirklichung in der Freizeit, im Urlaub, im Ruhestand stattfindet, wirkt heute geradezu absurd. Nur ältere Generationen erinnern sich noch daran, dass diese Verhältnisse einmal die Norm waren und nicht die Ausnahme.

Diese Taktik, dieser verzweifelte Abwehrschlacht wird immer rabiater. Alle neuen Pläne und Ideen  - Gentechnik, synthetische Nahrung, Rohstoffausbeutung anderer Planeten, Einfrieren von Erbgut, Klonen, dienen nur wieder den Interessen einer kleinen Geld-Oligarchie. Da die Regierungen von ihr praktisch entmachtet wurden, sind mittlerweile ganze Staaten auf das Niveau vor-industrieller Subsistenzwirtschaft abgerutscht .

Es herrscht die nackte Existenzangst. Dieses vergiftete gesellschaftliche Klima, dieses gekippte Gewässer kann keine Innovationen, keine Ideen hervorbringen, sondern nur noch Mitläufer, Kriecher, Denunzianten und selbsternannte Heilsbringer.

Jetzt, wo der primäre Sektor wackelt oder bereits zerstört  ist, bröckeln auch die parasitären Dienstleistungen, die Blender- , Sprechblasen- und Schaumschlägerindustrie, der organisierte Betrug der "Eliten". Die Dienstleister in der Werbung, im Marketing, im E-Commerce, bei den Banken, Versicherungen und Unternehmensberatungen, die nichts anderes gelernt haben als das Wissen darüber, wie man anderen, den Verbrauchern, dem produzierenden Gewerbe, dem Staat, geschickt das Geld aus der Tasche zieht, ohne dass sie es merken. Der tertiäre Sektor ist das Sammelbecken für die wahren Minderleister dieser Welt, besonders für die narzisstisch Gestörten, im höchsten Maße abhängig davon, dass sie ein anderer ernährt, und zwar ausgerechnet jene, auf die sie die letzten Jahrzehnte gespuckt haben. Jetzt schlagen sie panisch um sich, weil sie ahnen, dass die Fassade bröckelt, dass immer mehr Menschen merken, dahinter ist nur heiße Luft. Sie platzen wie eine Seifenblase.

Faktizität statt Normativität


Wo gibt es heute die höchsten Gewinnspannen? In den Wirtschaftszweigen Finanzprodukte, Menschenhandel, Lebensmittel- und Medikamentenbetrug, Produktpiraterie, Internetbetrug, Waffenhandel, Drogenhandel, Prostitution, Handel mit aussterbenden Tieren, Kinderpornografie, Wilderei. Mit einem Wort: In der organisierten Kriminalität. Wenn das keine Bankrotterklärung der "freien Märkte" und des globalen Welthandels ist, was dann?

Der Neoliberalismus behauptet, dass wir uns den Sozialstaat nicht mehr leisten können. Ich behaupte, dass WIR, nämlich die gesamte globale Zivilgesellschaft, die gesamte belebte und unbelebte Natur dieses Planeten, von der wir abhängig sind, uns den Neoliberalismus nicht mehr leisten können.

Intellektuelle Verflachung und Denkfaulheit haben dazu geführt, dass vom Faktischen das Normative abgeleitet wird - allerdings nur dort, wo es den Interessen der Mächtigen in den Kram passt. Das Tierreich - fressen oder gefressen werden, das Recht des Stärkeren - ist ja immer für eine passende neoliberale Analogie gut. Dabei könnten Erdmännchen, Wölfe und Hyänen, Wale und einige Primaten für Menschen Vorbilder sein im Sozialverhalten. Jeder abwertende Vergleich des angeblich "vernunftbegabten", planenden, vorausschauenden, intelligenten Wesens Mensch mit dem Tierreich ist eine Beleidigung für letzteres. Und gerade diejenigen, die am lautesten in selbstherrlicher Verblendung von der Krone der Schöpfung und ihrer überragenden Rationalität faseln, haben die größten und sichtbarsten Defizite in dieser Hinsicht. Jeder abwertende Vergleich mit der Vergangenheit - unser ach so toller Fortschritt, unser Wohlstand, nie ging es den Menschen so gut wie heute, die ach so rückständigen früheren Epochen, das finstere Mittelalter - ist eine Beleidigung, ein Schlag ins Gesicht aller Anständigen, die je auf dieser Erde gelebt und sich für eine bessere Welt eingesetzt haben, Anständige, die es heute nicht mehr gibt, weil es sie nicht mehr geben darf. Weil die, die die Wahrheit aussprechen und vorleben - es geht auch anders -, kein Existenzrecht mehr haben. Sie sind nur noch Sand im Getriebe, werden als Außenseiter abgestempelt. Die Steinzeit verdient das Prädikat "Kultur" eher als die heutige verkommene Trash-Endzeitepoche.

Ein Riegel ist eingeschnappt und lässt sich nicht mehr lösen. Welche Folgen es für die Gesellschaft hat, wenn die "Gutmenschen", die solidarischen, mitfühlenden Gegengewichte, die Korrektive wegfallen, wenn die "36 Gerechten" verschwinden, wenn die Kritische Masse plötzlich erreicht ist, wenn die Defizienten, die Reptilienhirngesteuerten wissen, dass sie jetzt ungestraft und hemmungslos ihrem Frust, ihrem Hass, ihrer aufgestauten Destruktivität freien Lauf lassen können, ganz einfach weil niemand mehr da ist, der ihnen in den Arm fallen könnte, zeigt Joanne K. Rowling in ihrem Roman "Ein plötzlicher Todesfall". Vom Feuilleton wurde das Buch verrissen; eine Ausnahme ist ZEIT-Redakteur Jens Jessen, der das "Uhrwerk" dieses Romans, die Beschreibung dieses zerstörerischen Mechanismus erkannt hat:
"Kaum ist er gestorben, beginnt im Gemeinderat ein konservativer Rollback, bricht überall an Gier, Bosheit und Niedertracht auf, was sich vor Barry Fairbrother vielleicht noch geschämt hat oder von ihm beruhigt wurde. Konnte ein guter Engel soviel bewirken? Man mag es plausibel finden oder nicht, J. K. Rowling hat das Uhrwerk ihres Romans jedenfalls so gebaut, dass der Ausfall einer Hemmung die frei gewordenen Zahnräder durchdrehen lässt."
Warum interessiert es keinen mehr, wenn sich die Lebensqualität der Bevölkerungsmehrheit verschlechtert hat? Ganz einfach: Diese Menschen bringen keine ausreichende Rendite mehr. Sie kommen in der ökonomischen Gesamtberechnung nicht vor. Sie sind praktisch nicht existent. Die wenigen Stimmen, die ernsthaft versuchen, gegen den Mainstream anzuschreiben, sind meist die der  Älteren, der Senioren. Sie gehören vielleicht zu den letzten psychisch noch halbwegs Gesunden in den Industrieländern. Wenn die weggestorben oder sonst wie kalt gestellt worden sind, dann Gnade uns Gott. Die Jüngeren - deren Deformationen sind ja schon bei den heute Mittdreißigern zu besichtigen - haben ja noch nicht einmal eine Vergleichsmöglichkeit. Was man nie gekannt hat, vermisst man nicht.

Keine einzige naturwissenschaftliche Theorie hat uns je erklären können, wie wir als Menschen auf diesen Planeten leben sollen, wie ein gutes, sinnerfülltes Dasein aussehen kann. Das ist auch nicht ihr Zweck. Die Ergebnisse dieser Wissenschaften sollen funktionieren und den Wohlstand erhöhen. Den Absatz, den Konsum, die Gewinne steigern. Mehr nicht. Das Ergebnis dieser fatal einseitigen Gewichtung können wir nun ablesen am weltweiten psychischen und physischen Leiden, am Unglück der Menschen, an der Zerstörung der Natur, an der Kriegstreiberei, an der Aufrüstung. Nun taumelt eine vollkommen orientierungslose und ihren ureigenen Bedürfnissen vollkommen entfremdete Menschheit dem Ende der Zivilisation und dem Beginn einer neuen Barbarei entgegen..

Kurzsichtiges, reaktives Handeln ist grundsätzlich dumm. Und das größte unkalkulierbare Risiko ist der Mensch selber.

Die Menschen sind frustriert, weil über sie verfügt wird. Auch wenn sie ihren Frust nicht deutlich artikulieren können, entweder aus mangelnder Reflexionsfähigkeit oder schlicht aus Mangel an Zeit. Dennoch brauchen sie ein Ventil: Nach oben wird gebuckelt, deshalb muss nach unten getreten werden. Pausenlos. Das lässt sich in allen sozialen Verbänden beobachten, in Familien, in den Schulen, in den Firmen, in Internet-Foren. Es muss überall einen Sündenbock, einen Prellbock, einen Fußabtreter geben, jemanden, über den man glaubt, Macht ausüben zu können, bei dem man seine Wut ablassen kann, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Primitivstes Rudelverhalten. Oft übernehmen arme Verwandte diese Rolle, oft sind es einfach die eigenen Kinder (weil sie so schön abhängig sind), oft sind es Hunde als Haustiere. Es liegt nicht nur an der zunehmenden Vereinsamung, dass die Zahl der Hundehalter vor allem bei Single-Haushalten zunimmt.

Menschen können viel Leid ertragen, aber nichts ist so verheerend wie das Gefühl des Ausgestoßenseins aus der Gruppe. In primitiven Gesellschaften führt dies zum physischem Tod. Die Lebenserwartung, die Heilungschancen nach Krankheiten, die Immunabwehr von Alleinstehenden sind signifikant niedriger. Hier setzt der Marktfundamentalismus an und nutzt diese Schwachstelle geschickt für seine Zwecke aus. Je mehr das Individuum unter Druck gerät, desto stärker, desto verzweifelter sucht es Anschluss und klammert sich an Ideologien, anstatt seinen eigenen kritischen Verstand zu benutzen. Menschen, die absolut isoliert und bindungslos sind, haben das meiste destruktive Potential. Wozu und warum noch für die Gruppe kämpfen, die mich ausgestoßen hat, für das eigene Land, für die Gesellschaft, für die Arbeitswelt, die mich nicht braucht, wofür sich einsetzen, wem gegenüber soll ich denn noch loyal sein? Am gefährlichsten sind die, die nichts mehr zu verlieren haben. Und diese sind deshalb auch Hauptziel der Rasterfahndungen, gelten von vornherein als kriminell und terrorverdächtig.

Finale


Das unheilvolle Zusammenwirken all dieser Einflussfaktoren, die sich in ihren fatalen Wirkungen noch untereinander verstärken, der Totalausfall jeglicher Korrektive, Utopien, Alternativen, auch der Ausfall oder die Wirkungslosigkeit des aus historischer Betrachtung ehernen Prinzips der Selbststeuerung, der Systemanpassung, des sich in der Regel durch Revolutionen, Putsche, Aufstände, Kriege manifestierenden Umschlags ins andere Extrem - all das lässt unweigerlich an eine höhere Macht, eine lenkende Hand denken, die sich sagt: So, Ihr habt nun eure Chance gehabt, das Experiment ist gescheitert, die Party ist vorbei, nun müsst ihr in all eurer Hybris und Ignoranz in die Grube fahren, die ihr euch selber gegraben habt. Und ich schaue zu und lache mir ins Fäustchen.

Man könnte versucht sein, an den Antichrist zu denken, der still und heimlich sein Verblendungswerk quasi hinter unserem Rücken vorbereitet hat (mehr Wohlstand, mehr Freiheit, mehr Glück für alle, Trickle down-Effekt)  und sich nun höhnisch grinsend erhebt und seine Fratze zeigt. Mit Rationalität hat die Globalisierung nicht das geringste zu tun. Es geht nicht um die Zukunft der Menschheit, nicht um das ökologische Gleichgewicht, noch nicht einmal um den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, sondern was die Verblendeten antreibt, und es werden immer mehr, sind ein paar Jachten, ein paar Aktien, ein paar Firmen mehr im Portfolio, ein paar Milliarden mehr. Das treibt sie an. Sonst nichts. Man muss konstatieren: Die Methode ist so elegant wie effizient, jedenfalls subtiler als mittelalterliche Wegelagerei.

Das Spiel ist für die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten bereits gelaufen, nun geht es dem Establishment nur noch darum, wie man die Botschaft so verpackt, dass es nicht doch noch hier und da zu kleinen Umutsbekundungen kommt. Außen wird Platons Politeia draufstehen, aber der Inhalt wird eine lupenreine Oligarchie und Feudalherrschaft sein, und immer noch wird sich um die Tatsache herumgedrückt, dass die seit 6 Jahren schwelende Weltwirtschaftskrise Ausdruck einer Systemkrise ist, deren Ursache das schuldenbasierte Zinssystem ist. Kein Staat, keine Bevölkerung wird jemals die Zinsen zurückzahlen können, die die jungen Spekulanten und alten Vermögenden einfordern. In den letzten Jahren hat ein gigantischer Raubzug stattgefunden, und jetzt, wo so allmählich die Ersten das böse Spiel durchschauen, wird der Sack zugemacht und die Beute gesichert. Die letzten Staaten, die sich mit Recht Demokratien nennen dürfen, werden einfach kaputt konkurriert und übernommen - Deutschland gehört nicht mehr dazu, wenn man Reinhard Jellen folgen will: "Das Land befindet sich im Zustand der Post-Demokratie bzw. der "marktkonformen Demokratie", die bereits neofeudale Strukturen ausgebildet hat. (...) Demokratische und sozialstaatliche Prinzipien wurden in der Ara Rot-Grün mit einer Leidenschaft und Zerstörungswut ad absurdum geführt, die im Nachkriegsdeutschland ihresgleichen sucht. (...) Welchen von den vier Flügeln der Neoliberalen Einheitspartei Deutschlands man wählt, ist nämlich ziemlich egal (wobei aber der Neoliberalismus seit den Zeiten der Bankenrettung selbst nicht mehr neoliberal, also auf die Ausweitung des Marktes, sondern neokeynesianisch ausgerichtet ist, sofern der Bankensektor finanziell alimentiert wurde, womit dann in Zukunft aufgrund der Lücken im Staatshaushalt neue soziale Härten begründet werden können – heutzutage ist man neoliberal nach unten und neokeynesianisch nach oben." (In: Hintergrund, "Der große Demokratie-Schwindel", S. 27). Da reichen schon ein paar gezielte Wirtschaftssanktionen oder konzertierte Angriffe auf die Landeswährung. Es erübrigt sich dann auch die letzte Option der Massenflucht oder Auswanderung, denn als Zufluchtsort bleiben dann kaum noch Kandidaten übrig. Es ist rührend und traurig, dass die meisten Kommentatoren immer noch glauben, sie seien in diesem System gleichberechtigte menschliche Wesen mit Grundrechten, mit einer Stimme, die Einfluss nehmen kann. Menschenrechte und demokratische Grundprinzipien, wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Mitbestimmung sind den 1% nämlich mittlerweile einfach zu teuer, zu aufwendig.

Mittlerweile ist das ins Bodenlose abgesackte Niveau – moralisch, intellektuell - täglich zu besichtigen. Chance verpasst. Es verhält sich hier genau wie mit einem zu kleinen Genpool. Langfristig führt er zum Aussterben der Spezies.

Es gibt keine Lösung innerhalb der Matrix. Grenzgänger, die die rote Linie überschreiten, kehren nicht mehr zurück. Menschen, die Platons Höhle verlassen und wieder zurückkommen, weil sie ihre Einsichten mitteilen wollen, werden von der Meute erschlagen.

Es bleibt also nur noch die ultimative globale Naturkatastrophe als letzter Ausweg, nur sie wäre in der Lage, menschlicher Hybris ihre Grenzen zu weisen. Vielleicht werden die Reste der "primitiven, rückständigen" Urvölker auf dieser Erde, seit jeher verachtet, ausgebeutet und diskriminiert von den selbsternannten "Eliten" der Welt, eines Tages erstaunt feststellen, dass sie weit und breit die einzigen Überlebenden sind.

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