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Donnerstag, 29. August 2013

Parasiten



"Quite an experience to live in fear, isn't it? That's what it is to be a slave."
Replikant Roy, in "Blade Runner", 1982, Regie: Ridley Scott




Abstrakt. Aquarell
In letzter Zeit sind hier und da Kommentare zu lesen, die eine Abkehr von der Abhängigkeit von Großkonzernen fordern. Weg von der Abhängigkeit vom Strom- und Benzin- , vom Kartoffel- und Matratzenkartell, weg von der Abhängigkeit von Medienkonzernen, von Nahrungsmittelkonzernen, von Ölkonzernen, von Pharmakonzernen. Es gibt kaum noch Lebensbereiche, in dem der moderne Mensch zwischen mindestens zwei gleichwertigen Alternativen wählen kann, weder in seinem Konsumverhalten noch in seiner persönlichen Lebensführung.

Wir mit unserem Reptilienhirn und mit unserem über Generationen erlernten und durch eigene Erfahrungen scheinbar erprobten Bild vom idealen Markt im Kopf versuchen zu verstehen, wie es nur dazu gekommen sein kann, dass eine kleine Zahl von Unternehmenslenkern es über die letzten Jahrzehnte geschafft hat, weltweit alle wichtigen Regierungen zu kontrollieren und so zu gängeln, dass ihre eigenen wirtschaftlichen Gewinninteressen verlässlich, über alle Staatsformen, alle Parteien und alle Legislaturperioden hinweg durchgesetzt werden.

Wenn wir an die Deutsche Bank denken, glauben die meisten von uns immer noch, es wäre eine deutsche Großbank, eine Bank mit Sitz in Deutschland, mit vorwiegend deutschen Mitarbeitern, mit deutschen Vorständen. VW ist für uns immer noch eine deutsche Automarke, ebenso Daimler und BMW, Siemens ein deutscher Technologiekonzern, die Telekom ein deutscher Telefon- und Internetanbieter. Monsanto, Bayer, Nestle, Shell, die Kette lässt sich beliebig fortsetzen. Alles falsch, alles völlig naiv. Großkonzerne sind keine Wirtschaftsunternehmen wie andere, etwa mittelständische Betriebe, es sind im philosophischen Sinn eigene Entitäten mit einer eigenen Logik.

Deutschland liegt in der Mitte Europas und ist mit roundabout 80 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Staat in der EU. Soviel steht fest. Glaubt irgend jemand im Ernst, dass diese Konzerne jemals freiwillig auf diesen fetten Marktanteil verzichten? Sollen sie doch ins Ausland oder nach China gehen, hört man zuweilen. Da sind die doch schon längst! Die Schwellen- und Entwicklungsländer sind genauso betroffen, der große Ausverkauf nationaler Schätze und Ressourcen hat auch hier bereits begonnen.

Wir werden von morgens bis abends abgezockt, ein Leben lang. Besonders die Deutschen zahlen grundsätzlich überhöhte Preise für immer schlechtere Qualität, und der Konzerngewinn landet nie bei den Produkten in Form von Produktverbesserungen, nie bei den Mitarbeiten in Form von Lohnerhöhungen, sondern immer nur bei den Aktionären.

Für die Konzerne ist es nie genug. Kann es gar nicht sein. Es gibt keine Grenze nach oben. Das lässt der systemimmanente Wachstumszwang nicht zu. Darüber müssen wir uns völlig klar sein. Selbstverständlich kann man sich dagegen wehren. Kein Mensch muss sich mit dieser Entwicklung abfinden. Aber weil diese Entwicklung inzwischen auf globaler Ebene abläuft, weil sie inzwischen totalitäre Ausmaße angenommen hat, müssen auch die Gegenmaßnahmen so radikal sein, dass es ein persönliches Sicherheitsrisiko bedeutet, sie öffentlich oder auch nur halböffentlich zu äußern.

Der Leidensdruck wächst. Wir schimpfen über den Lobbyismus und suchen unverzagt nach Lösungen. Wir rufen den Staat zu Hilfe, er soll schärfere Gesetze erlassen. Ausgerechnet den Staat, der seine eigene Verantwortung längst an die Wirtschaft abgegeben hat und seine politische Handlungsfähigkeit nur von Parteispenden durch Konzerne, sprich Korruption abhängig gemacht hat. Wir gründen Verbraucherschutzverbände, Beratungsstellen (deren Fördergelder je nach Kassenlage dann wieder gestrichen werden), lesen Warentest-Zeitschriften. Einige versuchen, durch ihr Einkaufsverhalten die Marktmacht der Konzerne zu beschneiden. Gut, dann tankt man eben mal eine Woche lang nicht bei Shell. Die anderen Ölmultis freut's.

Hier und da wird wieder die Utopie vom autarken Leben gewagt. Urban Gardening – selbst angebautes Gemüse und Obst möglichst gen- und schadstofffrei - ist ein Trend, der aus dieser Sehnsucht erwächst, ein anderer war lange Jahre der Traum von der Energie-Selbstversorgung, mit den Solarzellen auf dem Hausdach.

Einen konsequenten Ausstieg aus der Abhängigkeit, konsequente Autarkie, zumindest bei der Grundversorgung mit Energie, Wasser, Nahrung, muss man sich aber erst einmal leisten können. Es ist möglich, und einzelne Modellkommunen machen es vor. Es sind und bleiben jedoch Einzelfälle. Wer genug Geld auf die Seite gepackt hat und nicht von einer Bankfinanzierung abhängig ist, schafft das auch als Einzelperson oder mit der Familie. Die Masse der Bevölkerung jedoch hat die finanziellen Mittel nicht, das wird, nein, das muss im Interesse der Großkonzerne auch so bleiben. In dieser Hinsicht sind sich die Wirtschaft und ihre Erfüllungsgehilfen völlig einig.

Das ist auch der Grund, warum es nie zu einer solidarischen Massenbewegung gegen die Konzerne kommen kann. In Sachen der existentiellen Grundgüter ist sich immer jeder sich selbst der Nächste. Menschen haben grundsätzlich Schwierigkeiten, in größeren kollektiven Dimensionen zu denken und zu handeln. Deshalb ist die Linke Theorie zumal in ihrer internationalistischen Ausrichtung so viel anspruchsvoller und intellektuell herausfordernder als die krude rechte Ideologie, die dem Bedürfnis an eine räumlich überschaubare, regionale und nationale Identität, an Heimatgefühl und Gemeinschaft entgegenkommt.

Die Regeln von nationalen, regional begrenzten und gesetzlich regulierten Märkten, nach dem Urbild des lokalen Wochenmarkts, wo Händler und Käufer, Angebot und Nachfrage zusammentreffen, um einen für beide Seiten fairen und gerechten Preis auszuhandeln, Regeln, wie sie auch heute noch in der klassischen Betriebs- und Volkswirtschaftslehre nachgebetet werden, sind durch die Globalisierung völlig außer Kraft gesetzt worden. Was uns damals als Befreiung, als Beginn eines endlosen Wachstums verkauft worden ist, erweist sich heute als systematische weltumspannende Versklavung und Entmündigung, sowohl der Konsumenten als auch der politisch Verantwortlichen. Wenn der Absatz in einem Land schwächelt, dann muss ein anderes Land, ein anderer Markt den Verlust ausgleichen. Großkonzerne können im Prinzip gar nicht verlieren. Das unternehmerische Risiko ist für sie faktisch abgeschafft. Sie zahlen Dumpinglöhne und profitieren von Leiharbeit, sie sorgen für unternehmerfreundliche Steuergesetzgebung, um so ihre nationalen Gewinne mit Verlusten von ausländischen Tochterfirmen kleinzurechnen, sie betreiben Standorthopping – wenn die örtlichen Steuern und Abgaben, die Umweltauflagen oder das Lohnniveau zu hoch geworden sind, zieht man eben weiter, so wie es die Textilindustrie jahrelang vorgemacht hat. Von Deutschland in den Osten, nach Polen oder ins Baltikum, von dort nach Indien, Südchina, Thailand, Vietnam. Hemmungslos werden Steuergelder in Form von Standortsubventionen kassiert, sogar noch am Müll wird verdient. Abgelaufene Medikamente werden in Afrika verscherbelt, abgelaufene Lebensmittel in den Armenhäusern und Tafeln. Ob Elektronik- und Computerschrott, radioaktiver Abfall und chemische Gifte – die Konzerne finden Mittel und Wege, um auch noch um die vielerorts nationalgesetzlich vorgeschriebenen Rücknahme- und Entsorgungspflichten herumzukommen. Sie sparen ihre Forschungskosten ein, in dem sie Patienten und Konsumenten zu ihren Versuchstieren machen. Sie investieren nicht in technologische Innovationen, sondern kaufen stattdessen lieber Patente auf.

Man darf sich darüber keinen Illusionen hingeben: Das erklärte Ziel ist die totale Herrschaft über die globale Flora und Fauna, die gesamte belebte und unbelebte Natur dieses Planeten, von der genetischen Ausstattung der Nutzpflanzen und Tiere bis hin zum menschlichen Erbgut, von der jeweiligen Landessprache als Grundlage des menschlichen Denkens, bis hin zur physikalischen Welt der Farben, Formen, Mineralien, Töne, und damit über die gesamte menschliche Zivilisation. Denn wer oder was sollte einen Konzern daran hindern, ein Patent auf die chemische Zusammensetzung von Wasser, auf eine bestimmte Gensequenz oder auf einen bestimmten Buchstaben in Kombination mit einer bestimmten Farbe anzumelden? Das Facebook-Logo - kleines f auf blauem Grund - darf ja schon nicht mehr verwendet werden.

Der größte Feind der Großkonzerne sind nicht etwa die Regierungen und erst recht nicht die Schafherde der abgezockten Konsumenten, es sind die anderen Großkonzerne, die Mitbewerber. Sie kannibalisieren sich deshalb untereinander durch sinnlose Fusionen und feindliche Übernahmen – oft nur als Folge von Persönlichkeitsstörungen der Konzernführer wie etwa paranoider Größenwahn. Meist führen solche Fusionen unter dem Strich zu großen Verlusten, wie an vielen Einzelfällen nachweisbar ist. Kartelle und verbotene Preisabsprachen sind ebenfalls Ausdruck dieses paranoiden Macht- und Gewinnstrebens. Wenn man den Gegner nicht besiegen kann, muss man ihn wenigstens solange in Schach halten, bis die Zeit zur Übernahme gekommen ist. Konzerne lassen sich noch nicht einmal für ihre selbst verursachten Verluste haftbar machen, denn auch bei Verlusten und Firmenpleiten infolge von Fusionen und unternehmerischen Fehlentscheidungen sorgen horrende Abfindungen für die Verursacher und Versager dafür, dass auch der letzte Rest von unternehmerischen und persönlichen Verantwortungsbewusstsein systematisch ausgeschaltet wird. Strafrechtliche Konsequenzen, etwa wenn eine Schmiergeldaffäre auffliegt oder Schadensersatzforderungen von Konsumenten geltend gemacht werden, haben die Konzerne von vornherein eingepreist und zahlen sie aus der Portokasse. Und für alle Verluste durch Eigenverschulden der Konzernlenker kommen nicht etwa die Konzerneigentümer, die Aktionäre auf, sondern grundsätzlich wir, die Konsumenten und Steuerzahler.

Das Ende des Weges wird erst mit dem totalen Monopol erreicht, wenn der letzte Mitbewerber ausgeschaltet und geschluckt ist. Konzerne sind globale Parasiten, aber im Gegensatz zu ihren Verwandten, den Zecken und anderen Blutsaugern und haben sie bis heute nicht begriffen, dass sie von ihrem Wirt abhängig sind - und nicht umgekehrt.

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