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Montag, 2. September 2013

Arbeitslosigkeit als Krankheit

...oder als beglückende Möglichkeit der Kontemplation




Berge. Aquarell
„Was einer Gesellschaft Arbeit bedeutet, zeigt sich an ihrem Verhältnis zur Arbeitslosigkeit“ konstatiert treffend Christoph Türcke in seinem Aufsatz „Gottesgeschenk Arbeit. Theologisches zu einem profanen Begriff“. (In: Hamburger Adorno-Symposion. Dietrich zu Klampen Verlag 1984). Dieser Text ist heute leider immer noch so aktuell wie damals, gehörte aber nie zu den philosophischen Bestsellern. Es ist symptomatisch, dass solche und andere kritische Texte ein Nischendasein fristen oder – wenn überhaupt – nur im Eigenverlag erscheinen können.

Warum nur habe ich immer so ein ungutes Gefühl bei Politiker-Phrasen wie „Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“. Für mich klingt das immer wie der Kampf gegen irgendeine Krankheit, gegen ein Ungeziefer, das ausgemerzt werden muss, gegen einen ansteckenden Virus. Ähnlich wie "Kampf gegen Aids". Die Arbeitslosenquoten würden dann den Ansteckungsgrad innerhalb der Bevölkerung abbilden. Warum nicht gleich konkret und ehrlich sagen: Kampf gegen die Arbeitslosen? Da begreift man doch endlich, worum es wirklich geht. Wie bekämpft man nun aber die Millionen von Arbeitslosen? Mit Gift? Geht ja schlecht, zu hohe Streuverluste. Wohin auch danach mit den Leichen? Aushungern durch 100%ige Streichung der Leistung? Schon eher eine Möglichkeit, verdirbt dann aber wieder die Kriminalitätsstatistik.


Die Betroffenen selber – durch die herrschende Ideologie und ihre Institutionen tausendfach konditioniert – fallen in diesen "Ich habe eine tödliche Krankheit"-Chor ein. Das ist mir neulich auf einer Vernissage aufgefallen. Eine Frau sagte zu einer anderen "Ich bin arbeitslos." Sie hätte genauso gut sagen können: "Ich habe Krebs" oder "Ich habe Aids" - der Tonfall ist haargenau derselbe. Hier stehe ich, ein leidgeprüfter Mensch, schwer geschlagen von einem unbegreiflichen und unberechenbaren Schicksal...

Das potentiell Subversive eines Arbeitslosen ist, dass er Zeit hat. Zeit, die er zumindest theoretisch nutzen kann, wie er will. Keiner schreibt ihm das vor. Er kann den ganzen Tag RTL II gucken, er kann aber auch nachdenken. Nachdenken über die Lage, in der er steckt, darüber, wie er dahin gekommen ist, wo er jetzt ist, und wie eine Gesellschaft beschaffen sein muss, die den Wert eines Menschen auf seine Funktion als Steuerzahler oder zumindest kaufkräftigen Konsumenten reduziert. Für viele Menschen ist eine erwerbslose Phase im Leben vielleicht eine einmalige Chance, diese Aus-Zeit zu gewinnen. Zeit auch, um das eigene soziale Umfeld zu überprüfen. Wer lässt einen fallen, wer reibt sich schadenfroh die Hände, wer unterstützt und hilft. Allerdings:
„Die Arbeitslosen selber merken (...) gewöhnlich nichts von der beglückenden Möglichkeit der Kontemplation, die in ihrem Dasein steckt. Die Arbeitenden aber wittern sie. Der hartnäckige, durch gutes Zureden nicht zu beseitigende Verdacht, Arbeitslose seien im wesentlichen Faulpelze und Schmarotzer, entspringt dem Neid auf die, die nicht schuften müssen. Die Sehnsucht nach der Erlösung von der Arbeit, die sich die Arbeitenden nicht eingestehen dürfen, weil Arbeit doch ein Segen ist, schafft sich Luft im Ruf nach Arbeitslagern für die, denen der Segen vorenthalten bleibt.“ (Türcke, S. 94)
Wenn die Gehirnwäsche, der wir in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung vom ersten Tag unserer Geburt an unterzogen werden, Erfolg gehabt hat, wird sich ein Arbeitsloser zu schuldig fühlen, um überhaupt noch weiter unter den Menschen weilen zu dürfen. Über 40? Selber schuld. Eine Frau, die ein Kind geboren hat und zurück in den Job will? Ein "falsches" Studienfach aus Interesse gewählt und nicht aufgrund von arbeitsmarktwirtschaftlichen Prognosen? Selber schuld. Pech für die Arbeitslosen und Glück für die Regierenden: Dieser ganze Haufen von weit über sechs Millionen Menschen ist völlig unorganisiert. Die eleganteste, weil auch moralisch unanfechtbare Lösung der Regierenden wäre der kollektive Selbstmord aller Arbeitslosen. Auf einen Schlag wäre unser Haushalt saniert. Die Bestattungskosten würde vielleicht sogar der Staat übernehmen, quasi als kleines Dankeschön für diese Opfergabe. Warum eigentlich nicht? Und wenn wir schon einmal dabei sind: Warum sollen nicht auch gleich alle Rentner dran glauben? Zumindest die nicht mehr Konsumfähigen, sprich die Kranken und Dementen, die "Kostenfaktoren" eben.

Es gibt Menschen, die es als Tierquälerei ansehen, wenn ein hochintelligenter Schäferhund den ganzen Tag im Zwinger eingesperrt ist oder sein tristes reizarmes Dasein an der Laufleine fristet, ohne eine Aufgabe, die seinem Potential entspricht. Es scheint in unserer derzeitigen Wirtschaftsordnung einfacher zu sein, einem solchen Hund Empathie entgegenzubringen, ihm einen angemessenen „Job“ zu besorgen als einem arbeitslosen Hochqualifizierten.


(Geschrieben 2006)

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