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Donnerstag, 7. Februar 2013

Der blinde Fleck und das Big Picture


"Willst du dich am Ganzen erquicken,
so mußt du das Ganze im Kleinsten erblicken."
Johann Wolfgang von Goethe




Namib-Wüste
Der blinde Fleck ist eine anthropologische Konstante. Bildlich gesprochen: Keiner von uns ist in der Lage, auf seinen eigenen Hinterkopf zu schauen. Im philosophischen Sinn ist jede einzelne menschliche Perspektive, jeder Blick auf die Welt einmalig, weil kein anderes Individuum physikalisch zur selben Zeit am selben Ort sein kann. Da, wo ich stehe, kann zur selben Zeit kein anderer sein. Da, wo andere stehen, kann ich zur selben Zeit nicht sein. Die sogenannte objektive Welt um uns herum ist unsere je eigene Konstruktion, bedingt durch unseren je eigenen Standpunkt in Raum und Zeit.

Im heute allgegenwärtigen ökonomischen Jargon ist dieses Phänomen unter dem Titel "Betriebsblindheit" bekannt. Seltsamerweise scheint alle Welt zu glauben, dass erstens dieses Phänomen nicht nur ohne weiteres in den Griff zu kriegen sei, sondern zweitens, dass es grundsätzlich keine weitreichenden Konsequenzen zu haben scheint.

Über Missstände kann in der Regel nur derjenige stolpern, der selber von ihnen betroffen ist. Oder wer zumindest jemanden kennt, der betroffen ist. Genau dies - das soziale Umfeld - ist aber in der heutigen Welt immer gleichförmiger und homogener. Sogenannte Abgehängte als auch Arrivierte haben zunehmend nur noch Kontakt zu ihresgleichen. Der blinde Fleck ist systemimmanent.

Eines der schönsten Beispiele für institutionalisierte Betriebsblindheit ist das Versagen der Sicherheitsbehörden beim NSU-Fall: Verkrustete Strukturen, Beamte mit Berührungsängsten vor dem Anderen, Fremden.

Vorurteile entstehen durch Abgrenzung. Eine Gesellschaft, in der Fremdes von vornherein als Bedrohung abgewertet und bekämpft wird, kann sich nicht weiter entwickeln. Im Gegenteil: Sie ist bereits retardiert.

Die im Web 2.0, in Foren, Blogs und Netzwerken ausgelebte Individualität fördert das Schubladendenken, verfestigt Vorurteile.

Begriffe wie Antisemitismus, Feminismus, Islamismus werden mit Bedeutung aufgeladen und als Totschlagargument pervertiert. Es dominiert das Verstecken hinter Namen von Theoretikern, anstatt das Werk selbst in seiner ganzen Differenziertheit und zeitlichen Entwicklung wahrzunehmen und zu reflektieren. Warum? Keine Zeit mehr dazu? Oder geistiges Unvermögen? Wer Heidegger zitiert, ist automatisch rechts, wer Adorno zitiert, links. Auf der sicheren Seite sind scheinbar nur diejenigen, die sich weitab von weltanschaulichen Fragen in der "reinen" Wissenschaft mittels Zahlen und Statistiken bewegen.

Besonders extrem wirkt sich der blinde Fleck in der Expertenkultur aus: Je besser man sich als Forscher in seinem Gebiet auskennt, desto weniger weiß man Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und ein Thema auf den Punkt zu bringen.

Die Medienmacher, die Journalisten bei der Presse, im Funk und Fernsehen rekrutieren sich fast nur noch aus akademischen oder gut situierten Elternhäusern. Entsprechend verengt, vorurteilsbeladen und realitätsfern gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Gruppen und Problemfeldern ist ihr Blick, ihre Berichterstattung, ihr Agenda Setting. 
"Auf der Deutschen Journalistenschule in München, wo ich nach meinem Germanistik-Studium eine Ausbildung zum Redakteur absolvierte, hätte es einen wie mich gar nicht geben dürfen. Nicht weil die Journalistenschule etwas gegen Bewerber aus Arbeiterfamilien hätte, im Gegenteil, sondern weil diese in der Regel gar nicht so weit kommen. »Kinder von Facharbeitern oder ungelernten Arbeitern [...] existieren an den Journalistenschulen nicht«, heißt es in einer Dissertation der Technischen Hochschule Darmstadt. 85 Prozent der Journalistenschüler stammen aus einem »hohen oder gehobenen Herkunftsmilieu«, 15 Prozent stellt die »mittlere Herkunftsgruppe«." DIE ZEIT, "Chancengleichheit: Ich Arbeiterkind", Nr. 05, 24.01.2013)
Die Medienelite bespiegelt und bestätigt sich nur noch selbst, und womöglich wird das von den Unternehmensführungen und Aufsichtsräten gar nicht so ungern gesehen.
4. Die gute alte Mittel- und Oberschicht
31. Erweiterung


Déformation professionelle


Im übertragenen Sinn sind wir alle Opfer dieser Déformation professionelle. Im sozialpsychologischem Sinn zumindest. Alles um uns herum hat eine Wirkung auf uns. Jede Erfahrung hinterlässt ihre Spuren, ihren Stempel, ihre Narben. Wir reagieren und erfahren eine Gegenreaktion. Es ist ein permanenter Wandlungsprozess.

Eine bis zum Anschlag arbeitsteilig organisierte Gesellschaft produziert ohne Unterlass Gegenwartsdiagnosen. Probleme werden identifiziert, in ihre Einzelteile zerlegt und Stück für Stück einer Lösung zugeführt. Problematisch wird es, wenn die Einzelergebnisse nicht zusammengefügt werden können. So haben wir das Ressortdenken kultiviert, das uns daran hindert, einen Gesamtüberblick zu erlangen. Wir leben und denken in sauber abgegrenzten Schulfächern, in Fachdisziplinen, betrieblichen und administrativen Abteilungen und Zuständigkeiten, in journalistischen Ressorts. Das ganze selbstverständlich aus ökonomischen Effizienzsteigerungsgründen. Aus welchem Grund auch sonst.

Je mehr Zeit und Energie ich in die Vertiefung stecke, desto mehr fehlt mir die Zeit und Energie für die Breite, und desto größer werden meine blinden Flecke. Je mehr kurzfristige Belohnungs- und Erfolgserlebnisse ich durch meine steigende Spezialisierung erfahre – Karriere, höherer Sozial- und Expertenstatus - desto geringer das Bedürfnis, meinen eigenen blinden Fleck, meinen Tunnelblick auszugleichen, der sich quasi hinter meinem Rücken proportional zu meiner Spezialisierung ausdehnt. Und je mehr ich meine Identität, mein professionelles Image von meinem Expertenstatus abhängig mache, je stärker ich unter beruflichem Konkurrenzdruck stehe, desto eifersüchtiger werde ich mein Herrschaftswissen gegen die Außenwelt abschotten, meine Wissenslücken und meine Unsicherheit vernebeln, wo es nur geht, mich gegen Kritik immun machen, gegen jedweden Versuch, mir meinen kostbaren "Besitz" wegzunehmen, zu relativieren oder zu entwerten. Desto stärker meine Neigung, andere Lebensentwürfe, andere Sichtweisen, sogar konkurrierende Theorien innerhalb meines eigenen Fachgebiets abzuwerten, zu ignorieren. Und je länger ich meine Expertenrolle ausübe, desto stärker die Gefahr, dass meine Arbeit auf mein Privatleben, meine Persönlichkeit abfärbt, auf meine Weltsicht, auf mein Verhalten. Durch Rückkopplungseffekte  - permanente Ausblendung und Leugnung von Informationen, die mit meiner Deutung nicht konform sind - sehe ich meine scheinbar einzig wahre Expertensicht weiter bestärkt.

Auch dieses Phänomen ist uns allen bekannt: Die Lehrer, die alles und jeden in ihrer Umgebung maßregeln, abkanzeln und korrigieren müssen, die Ärzte und Krankenschwestern, die über ihre Mitmenschen ständig medizinische Gutachten abgeben, und die Psychologen, die - vielleicht die unangenehmste Nebenwirkung ihres Berufs - kaum noch unbefangen mit Menschen umgehen können, sondern sofort die passenden pathologischen Schubladen aufziehen. Soldaten und Offiziere, die sich auch innerhalb ihrer Familie nur noch im Befehlston artikulieren können. Es ist ein selbstverstärkender Prozess, gegen den kaum jemand immun ist.

Wer ein ganzes Berufsleben lang heucheln muss, wird auch im Privatleben zum Heuchler. Ob er will oder nicht.

Überträgt man diese persönlichen Erfahrungen auf die Gesellschaft, so ergibt sich das Bild einer atomisierten Wissensproduktion, die heillos zersplittert ist und das Gewahrwerden über diese Zersplitterung systematisch selber verhindert. In einer hochgradig komplexen, globalisierten und vollständig vernetzten, von Kommunikation abhängigen und überbevölkerten Welt, mit extrem beschleunigten, simultanen Prozessen, eine Welt also, in der Menschen vernünftigerweise mehr denn je auf Kooperation angewiesen sind, haben Entscheidungen, die auf der Grundlage von Expertenwissen getroffen werden, unvorhersehbare langfristige und sehr wahrscheinlich für das Große Ganze schädliche Auswirkungen. Wir erleben dies täglich. Fehlplanungen in der Bauwirtschaft, Fehlinvestitionen, politische Fehlentscheidungen - all dies ist geradezu vorprogrammiert, sozusagen systemimmanent.


Nehmen wir als Beispiel den Klimawandel: Die von einigen Forschern veröffentlichen Daten können so interpretiert werden, dass der point of no return, das heißt der Punkt, an dem das Weltklima unwiderruflich kippt und unvorhersehbare globale Folgen auslöst, kurz bevorsteht. Wie reagieren die Verantwortlichen darauf? Sie vertrauen darauf, dass der technologische Fortschritt diesen Punkt aufhalten und die Folgeschäden ausgleichen kann. Das ist ein typisches Beispiel für den Umgang mit Risiken unter Zeitdruck: Verlagerung der Problemlösung in die Zukunft, blindes Technikvertrauen, oder gar komplette Leugnung des Problems: Der Klimawandel existiert nicht, oder Variante: Den Klimawandel hat es immer schon gegeben, kein Grund zur Panik.

Das Problem ist, dass das Risiko der negativen Folgen den ganzen Planeten betreffen. Wenn ich nicht 100% sicher sein kann, ob Szenario A eintrifft, und wenn ich hochrechnen kann, dass Szenario A ein Worst case ist, das unvorhersehbare weltweite Risiken nach sich zieht, dann muss ich schon aus Vernunftgründen Szenario B – alles wird gut, wir haben alles im Griff - ausschließen. Denn wenn ich auf Szenario A reagiere und sich herausstellen sollte, dass ich mich geirrt habe und es keine Bedrohung gibt, wäre ich immer noch auf der sicheren Seite. Während es für Szenario B keine Handlungsoption mehr gibt, weil das Zeitfenster unwiderruflich geschlossen ist. Die physikalischen Gesetze dieser Erde nehmen keine Rücksicht auf die Hybris der Menschen. Sie lassen uns buchstäblich keine Zeit mehr für nationalistisches Taktieren. Es gibt ausreichend finanzielle Mittel und Sachverstand, um die Probleme zu lösen. Es gibt zuwenig moralische Reife. Es gibt unter den Entscheidern zu viele, die sagen: Ich lebe jetzt, ich will einfach nur meinen Spaß, was geht mich der Rest der Welt an, oder welche, die sagen: Ich habe nächstes Jahr eine Wahl, da kann ich der heimischen Industrie nicht mit irgendwelchen neuen Umweltauflagen kommen. Wenn ich als Experte nicht 100% sicher bin, ob die Folgen meines Handelns schädlich sind oder nicht, dann muss ich, wenn ich mich verantwortungsvoll verhalten will, das Risiko ernst nehmen, allein schon deshalb, weil die Folgen einer möglichen Fehleinschätzung nicht lokal oder regional begrenzt, sondern global sind.

Dummerweise richten sich weder der einzelne Mensch, noch soziale Institutionen und erst recht nicht die belebte und unbelebte Natur brav nach der kapitalistischen Arbeitsteilung.

In früheren Kulturen regierten Menschen, die sich durch mehr Wissen auszeichneten. Weisheit galt als Ausweis des Urteilsvermögens, für die Fähigkeit, eine für alle Beteiligten gerechte Entscheidung zu treffen. Heute ist das Verhältnis um 180 Grad gekippt.

Bereits seit den 80ern geistern Schlagworte wie ganzheitliches, mehrdimensionales, vernetztes, prozessorientiertes, fächerübergreifendes Denken, innovatives und kreatives Querdenkertum als ersehntes Korrektiv zum in betriebsblinder Routine erstarrten Fachidioten durch die Diskurse. Das Ganze hat für mich den Beigeschmack von Beschwörungsformeln. Durch Wunschdenken allein verändert sich gar nichts. Man kann auch keine Generalisten per Verordnung produzieren oder installieren. Ein Hauptfach, zwei Nebenfächer, wenn’s hart auf hart kommt, noch eine Umschulung. Ein Berufsbild und dazu ein Hobby und ein bisschen Ehrenamt, mehr gibt unsere Lebenswelt nicht her an Spielraum, an Freiheit und an Breite. Weil für eine echte Durchdringung, das Herstellen von Querbezügen und das Erkennen von Zusammenhängen zeitintensive Reflexion nötig ist.

Zeit: Wenn es irgendetwas gibt, das die gegenwärtigen Lebensbedingungen charakterisiert, so ist es der Mangel an Zeit. Die Realität sieht so aus, dass alle gesellschaftspolitischen Bestrebungen in den letzten 20, 30 Jahren darauf hinaus laufen, den Menschen so früh wie möglich und unwiderruflich auf das Spezialistentum festzunageln. Je mehr und früher man in die Kinder investiert, desto höher die Erwartungshaltung, desto mehr soll am Ende "herauskommen". Frühkindliche Förderung von Talenten - tatsächlich vorhandenen oder durch die  Eltern in das Kind projizierten -, Verkürzung der Schulzeit und der Studiendauer, extremste Arbeitsverdichtung in den Betrieben und Forschungseinrichtungen. Fachausschüsse, think tanks, externe Berater sollen die politischen und unternehmerischen Entscheider entlasten von ihrer Eigenverantwortung, dienen als Katalysator für die systembedingte Unfähigkeit zur ganzheitlichen Problemlösung. Sie lösen jedoch kein einziges Problem, sondern hier wird lediglich ein blinder Fleck durch einen anderen ersetzt.


Außenseiterpositionen werden in der Expertenkultur einfach nur noch als solche gebrandmarkt, damit man sie getrost ignorieren kann. Ach so, Außenseiter, alles klar, Fall erledigt. Es findet überhaupt keine Auseinandersetzung mit den Inhalten mehr statt. Das Ergebnis ist natürlich eine intellektuelle Monokultur, die nur noch im eigenen Saft schmort. Mehr noch: Außenseiter werden nicht mehr nur einfach ignoriert oder milde belächelt, sondern gezielt fertig gemacht. Man entzieht ihnen nicht nur die materiellen Lebensgrundlagen, man zerstört nicht nur ihren Ruf und unterstellt ihnen Neid, Missgunst und gar klinische Gestörtheit, sondern man spricht ihnen jegliche Existenzberechtigung ab. Sie werden gehasst, eben weil sie den heiligen Gruppenkonsens stören und in Frage stellen, den anderen einen Spiegel vorhalten. Das kann die Herde nicht dulden. Auch wenn es langfristig ihren Untergang bedeutet. All dies geschieht in einem Gemeinwesen, das sich Toleranz gegenüber Minderheiten auf die Fahnen schreibt und gegenüber anderen Unrechts-Staaten mit den sogenannten Grundrechten herumwedelt.

Wenn ich auf das, was ich und andere bisher erlebt haben, zurückblicke, stelle ich folgendes fest: Kinder, die nicht der Norm, dem Mittelmaß entsprechen, werden kalt gestellt durch Liebesentzug (heute zieht man es vor, sie mit Ritalin und anderen Psychodrogen vollzupumpen). Unangepasste Schüler werden als Außenseitern stigmatisiert und von Lehrern und der Schülerschaft gemobbt. Studenten, die ihrem Professor nicht in den Hintern kriechen, sondern versuchen, eigene Theorien zu entwickeln, werden mitleidig belächelt und in der Prüfung abgesägt. Arbeitnehmer, die uneigennützig von ihrem Wissen abgeben und eigene Ideen einzubringen versuchen, werden erst ungläubig und misstraurisch beäugt, dann gnadenlos in ihrer Hilfsbereitschaft ausgenutzt –, warum nicht mitnehmen, was man umsonst kriegen kann -, und zum Schluss, wenn sie ausgebrannt sind, weggemobbt. Querdenker im akademischen Betrieb werden von den Fachdisziplinen ignoriert, beschimpft, lächerlich gemacht oder als Nestbeschmutzer diffamiert. Intellektuelle und Gesellschaftskritiker werden überhaupt nicht mehr ernst genommen. Die überwältigende einhellige Ablehnung und Bekämpfung des Besonderen, des nicht-aufs-Mittelmaß-zu-Trimmenden auf allen gesellschaftlichen Ebenen - Familie, Schule, Beruf - lässt auf das Ausmaß des Konformitätsdrucks, der psychischen Deformation schließen, die die kapitalistische Arbeitsteilung hervorgebracht hat.

Das Beobachten der Wirklichkeit setzt notwendig voraus, dass man sich als Beobachter, als forschendes Individuum mit einer je eigenen Weltsicht selbst soweit wie möglich zurücknimmt. Jede Ausgangsfragestellung ist bereits eine Manipulation, die das Beobachtungsergebnis verändert. Wir kennen dieses Prinzip aus der Quantenphysik. Es ist dort als Heisenbergsche Unschärferelation bekannt.

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