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Sonntag, 17. Februar 2013

Über einige Muster heutiger Debatten


"Die gemeinsten Meinungen und was jeder für ausgemacht hält, verdient oft am meisten untersucht zu werden."
Georg Christoph Lichtenberg, (1742 - 1799), deutscher Physiker



Abstrakt, Aquarellfarbe
Georg Christoph Lichtenberg war eines von siebzehn  Kindern eines protestantischen Pfarrers, der dank eines Stipendiums studieren durfte. Ein Wissenschaftler, der seinen unabhängigen, kritisch-analytischen Geist unter den heutigen Verhältnissen nie hätte entwickeln können.

"Wer das nicht versteht und respektiert, hat nichts verstanden." Es sind Sätze wie dieser, die den allgemeinen Niedergang der sachlichen, rationalen Auseinandersetzung über das dokumentieren, was die Gesellschaft für richtig oder für falsch hält. Argumente, allgemein nachvollziehbare Begründungen, werden zunehmend durch persönliche Angriffe, Diffamierungen, Pauschalabwertungen ersetzt. Man setzt sich nicht mehr ernsthaft mit einer konträren Position auseinander, sondern googelt einfach den entsprechenden Wikipedia-Eintrag des Autors, schaut ins Who's Who oder klickt sich durch Freundeslisten, um die Position einem feindlichem Lager zuordnen zu können.

Personen statt Inhalte


Wir erleben eine auffällige Personalisierung und Psychologisierung im öffentlichen Diskurs. Wenn die Fähigkeit zu rationaler, logischer Argumentation versagt oder schlicht ausstirbt, wird in die Psychokiste gegriffen, um die Glaubwürdigkeit einer Person und damit der von ihr vertretenen Position zu diffamieren und abzuklassifizieren. Einfach deshalb, weil es so bequem ist und sich kaum jemand dagegen wehren kann, als x oder y diagnostiziert zu werden. Ein Beispiel für diese ist der Vorwurf der "Neiddebatte" als Ausdruck des argumentum ad hominem:
Unter einem argumentum ad hominem (lateinisch „Beweisrede zum Menschen“) wird ein Argument verstanden, in dem die Position oder These eines Streitgegners durch einen Angriff auf persönliche Umstände oder Eigenschaften seiner Person angefochten wird. Dies geschieht meistens in der Absicht, wie bei einem argumentum ad populum die Position und ihren Vertreter bei einem Publikum oder in der öffentlichen Meinung in Misskredit zu bringen. Es kann in der Rhetorik auch bewusst als polemische und unter Umständen auch rabulistische Strategie eingesetzt werden. (Quelle: Wikipedia)
Wenn die Wulff- und die Tebartz-van-Elst-Affären sowie der Fall Gertrud Höhler (Autorin von "Die Patin") irgendetwas gezeigt haben, dann dies: Die kollektive Wadenbeißerei, die mediale Hetze und Steinigung ist in diesem Land inzwischen die Norm, nicht die Ausnahme. Treffend dazu die Worte von Unseld-Berkéwicz:
"Schlechtes und Falsches wird gezielt in die Öffentlichkeit gelenkt und verselbstständigt sich dort als Meinung. Manchmal werden sogar Bücher draus. Diffamierung, der Versuch der Delegitimierung, der Versuch, Fakten zu neutralisieren als Zerstörungsmittel, scheinen mir gängig geworden zu sein – und vergessen Sie nicht: Jedem kann das passieren! Dass heute überhaupt noch jemand der Wahrheit wegen etwas tut oder schreibt, ist eher eine Seltenheit." (DIE ZEIT: "Ulla Unseld-Berkéwicz, Das gehört sich nicht!", Nr. 05, 24.01.2013)
Hier findet sich ein Beispiel für eine mediale Hinrichtung. Es spielt an dieser Stelle keine Rolle, ob an den Thesen eines Professor Hüther etwas dran ist oder nicht (ich selber habe den Mann nur einmal bei einer Beckmann-Talkshow gesehen), sondern es geht um die hier geradezu exemplarisch vorgeführte Taktik der öffentlichen Demontage, der Diskreditierung, der Demaskierung. Das einzig Interessante in diesem Artikel ist die Analyse der personellen Verflechtungen des "Bildungskritiker"-Netzwerks – Hüther, Precht, Juul, Kahl, Rasfeld. An diesem Beispiel zeigt sich wieder einmal, dass eine unvoreingenommene, sachliche Auseinandersetzung heute gar nicht mehr stattfindet, sondern inszeniert, gesteuert, manipuliert wird, dass Personen mit den richtigen Verbindungen im Vordergrund stehen und nicht deren Aussagen und Inhalte.


Freund-Feind-Schema


In den Medien und in der öffentlichen Sphäre der Netzforen werden zunehmend komplexe Sachverhalte und prozessuale, mehrschichtige Zusammenhänge auf primitive Dichotomien, auf das Freund-Feind-Schema heruntergebrochen. Entweder-Oder, Schwarz-Weiß, Oben und Unten, Reich und Arm, Links und Rechts, einfach deshalb, weil der ganze Problemkontext nicht mehr begriffen wird. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Das dialektische Denken scheint mir inzwischen weitgehend ausgestorben zu sein. Dieses kleinkarierte, durch persönliche Ressentiments vergiftete Schubladendenken bleibt nicht ohne Folgen für die Wirklichkeitswahrnehmung. Borniertes Denken reproduziert sich laufend selbst, erzeugt bornierte Menschen, die aber zu borniert sind, um ihre Borniertheit zu erkennen. Darin liegt ja gerade der Wesenskern der Borniertheit.


Begriffe wie Antisemitismus, Feminismus, Islamismus, hinter denen hochkomplexe Sachverhalte stecken, werden inflationär als Totschlagargument pervertiert. Es dominiert das Verstecken hinter Namen von Theoretikern, anstatt das Werk selbst in seiner ganzen Differenziertheit und zeitlichen Entwicklung wahrzunehmen und zu reflektieren. Warum? Keine Zeit mehr dazu? Oder geistiges Unvermögen? Wer Heidegger zitiert, ist rechts, wer Adorno zitiert, links. Auf der sicheren Seite sind scheinbar nur diejenigen, die sich weitab von weltanschaulichen Fragen in der "reinen" Wissenschaft mittels Zahlen und Statistiken bewegen.


Fetisch Wissenschaftlichkeit


Die intellektuelle Verflachung ist inzwischen auch in der Wissenschaft angekommen. Im Zuge des unseligen Diktums"Publish or Perish", das aus der angelsächsischen Welt auf den Kontinent geschwappt ist, wird Quantität zunehmend mit Qualität gleichgesetzt bzw. wird Ersteres zunehmend zum Ersatz für Letzteres. Die Flut an Veröffentlichungen kann schon seit Jahrzehnten niemand mehr überblicken geschweige denn kritisch würdigen, selbst in einem engen Spezialgebiet nicht. Lobe- und Zitierkartelle im akademischen Betrieb tun ihr übriges, um die Illusion wissenschaftlichen Fortschritts aufrecht zu erhalten. Auch in den Elfenbeintürmen der  Wissenschaft sitzen immer häufiger die Falschen, Ungeeigneten.

Wissenschaftlichkeit. Das ist heute der verzweifelt herbeigesehnte Segen, vom dem sich jeder erhofft, dass er über die eigenen geistigen Ergüsse erteilt wird – wenn man nicht gleich so ignorant oder so kaltschnäuzig ist und sich die Wissenschaftlichkeit, sprich die Unanfechtbarkeit seiner Behauptungen selber attestiert. Wohin man sieht: Überall dort, wo der Begriff auftaucht, sind Kämpfe um die Deutungshoheit im Gang, und wer für seine Behauptungen wissenschaftliche Beweise anbringen kann, ist klar im Vorteil. Leider wissen viele, die Begriffe wie Wissenschaft, Wissenschaftliches Arbeiten, wissenschaftliche Beweisführung verwenden, buchstäblich nicht, worüber sie reden. 

Das, was Wissenschaft wirklich auszeichnet und was sie von Dogmatismus und Scharlatanerie unterscheidet, ist das Wissen um die Vorläufigkeit und Falsifizierbarkeit, d.h. Widerlegbarkeit ihrer Ergebnisse. Man muss mittlerweile den Eindruck gewinnen, dass diese Grundanforderung selbst manchen Intellektuellen kaum noch gegenwärtig ist. Es ist haargenau dieses Wissen, von dem all diejenigen, die Wissenschaftlichkeit für ihren Standpunkt beanspruchen und gegnerische Positionen als "unwissenschaftlich" abqualifizieren, Lichtjahre entfernt sind.

Expertenhörigkeit


Die da oben machen das schon, das sind doch Experten. Die haben doch studiert. Dieses infantile Vertrauen ist rührend, aber vollkommen unangebracht. So denken Kinder in Körpern von Erwachsenen. Es gibt zwei Sorten von Experten: die wahren, unbestechlichen, integren Persönlichkeiten, und die anderen, die per Dekret zum Experten ernannt worden sind oder sich selber kurzerhand dazu ernennen, weil sie Geld brauchen oder geltungssüchtig sind oder aus  welchen anderen subjektiven Gründen auch immer. Jedenfalls geht es ihnen nicht um die Sache selber. Und nun darf jeder raten, welche Sorte von Experten Macht und Einfluss auf höchster Entscheidungsebene hat und welche nicht.

Wenn jeder sich zu einem Experten ernennen kann, ohne dass eine ausreichend fachkundige Öffentlichkeit dieses Attribut bestätigt, ist faktisch keiner und jeder Experte. Die öffentliche Bestätigung des Expertenstatus kann man sich heute einfach kaufen: durch Buchpublikationen, die von anonymen Ghostwritern produziert worden sind, Doktortitel, Fachvorträge, Facebook-likes und Twitter-followers - alles fakes, möglich nur durch informelle "soziale" Netzwerke.

In diesen Zusammenhang auffällig vor allem in der Sachbuchliteratur ist das sich Verstecken hinter Zitaten, das Voranstellen von isolierten, aus dem Zusammenhang gerissenen Sprüchen großer, meist verstorbener Denker. Das ist mehr als nur eine Modeerscheinung. Ich selber verwende ebenfalls Zitate in diesem Blog, hoffe aber, diese Zeitgeisterscheinung zumindest in einigen Fällen hinreichend deutlich persifliert zu haben.

Außenseiter


Der einzige Zweck eines Totschlagarguments ist es, jede weitere sachliche Auseinandersetzung, jede Debatte zu verhindern, im Ansatz zu ersticken. Daher ist der darin enthaltene Begriff des Arguments irreführend, denn es handelt sich gerade eben nicht um ein Argument, sondern um einen rhetorischen Schlag unter die Gürtellinie, um den Gegner mundtot zu machen.

Eines der häufigsten heutigen Totschlagargumente ist das Verdikt der Außenseiterpostion. Wer eine andere Meinung hat als die Herde, disqualifiziert sich damit automatisch selbst, anstatt als mögliches Korrektiv wahrgenommen und respektiert zu werden. Kurz und bündig dazu der Journalist Dieter E. Zimmer:
"Es gehört zum politischen Schick, missliebige wissenschaftliche Befunde nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern lieber wegzumobben" (SPIEGEL online, "Schlaue Möbelpacker, dumme Ärzte", 17.07.2012) 
Das Ausmaß der Repression, der Ausgrenzung und Stigmatisierung von Andersdenkenden, Andersfühlenden verhält sich exakt proportional zum Ausmaß der Betriebsblindheit und Unreflektiertheit der Ausgrenzenden, Stigmatisierenden, aber auch zum Ausmaß ihrer je eigenen psychischen Abwehr. Dabei birgt schon aus erkenntnistheoretischen Gründen eine distanzierte Beobachterposition, außerhalb des Mainstreams, außerhalb der Herde, die größten Chance auf einen klaren, unverstellten Blick auf das große Ganze und somit auch auf dessen strukturelle Defizite. Die Reaktion auf Naomi Kleins "Shock Doctrine (vorwiegend von Männern) spricht für sich: Schaum vor dem Mund. Ein deutscher Enthüllungsjournalist soll mit einer Prozesslawine mundtot gemacht werden. Einer der bekanntesten Globalisierungskritiker ist insolvent. So geht es vielen, die sich mit den Mächtigen anlegen. Es wird ihnen einfach die materielle Lebensgrundlage entzogen. Sie werden in den finanziellen Ruin prozessiert, sofern man sie nicht ganz wegsperren kann, weil sie zu prominent sind. Wo so scharf geschossen wird, gibt es möglicherweise auch Gründe, genauer hinzusehen.

Auffällig ist das fast einmütige und geschlossene Ignorieren der Thesen von Alice Miller und Arno Gruen, oder auch von Hans-Joachim Maaz innerhalb der Zunft, die Verweigerung der sachlichen Auseinandersetzung. Dies lässt auf psychologische Abwehrmechanismen schließen. Die Wahrheit ist offenbar zu schmerzhaft. Gekauft werden ihre Bücher trotzdem seit Jahren. Siehe dazu das Interview von Barbara Lukesch mit Arno Gruen über sein Buch "Der Wahnsinn der Normalität":
Lukesch: Arno Gruen, der Titel Ihres bereits vor zehn Jahre erschienenen Buches "Der Wahnsinn der Normalität" ist Thema und Motto der diesjährigen Basler Therapietage. Klären wir zunächst einmal einen Begriff: Was verstehen Sie in diesem Zusammenhang unter "Wahnsinn"?
Arno Guen: Ich spreche nicht in einem klinischen Sinn von Wahnsinn, sondern verstehe Wahnsinn im Sinne von Unmenschlichkeit, die allerdings nicht als solche erkannt wird und gerade deshalb viele Menschen zerstört. Denken Sie an all jene Menschen in unserer Kultur der Grösse und des Besitzes, die zwar ihre eigenen Gefühle des Schmerzes und Mitleids unterdrücken, dafür aber bestens funktionieren und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Erfolg davontragen. Nur wer unempfindlich ist für den Schmerz eines anderen, kann diesem auf den Kopf hauen oder ihn im täglichen Konkurrenzkampf ausschalten (...) 
Lukesch: Das Buch wurde zum Bestseller, und trotzdem hat keine einzige grosse Zeitung es je besprochen.
Gruen: Da sehen Sie, wie gross die Abwehr war. Das Buch weckt eben wirklich Aengste. 
Lukesch: Gut möglich. Schliesslich lautet Ihre Grundaussage ja auch: "Während jene als verrückt gelten, die den Verlust der menschlichen Werte nicht mehr ertragen, wird denen Normalität bescheinigt, die sich von ihren menschlichen Wurzeln getrennt haben." Ueberspitzt gesagt: Die Realitätstauglichen, Pflichtbewussten gehören eigentlich zum Psychiater, während die sogenannten "Verrückten" die letzten empfindsamen Menschen sind.
Gruen: Ich stelle mithin die Werteskala unserer Gesellschaft auf den Kopf, und das ist tatsächlich etwas sehr Beunruhigendes.

Nestbeschmutzer


Ein weiteres Totschlagargument findet sich häufig gegenüber Gesellschaftskritikern. Sie gelten per se als Nestbeschmutzer. Ihnen wird die Kritikfähigkeit vornherein abgesprochen, einfach schon deshalb, weil sie keine Patentrezepte mitliefern können. Wer keine praktikablen Lösungsvorschläge anbietet (bitte nicht mehr als 10, und immer eine gerade Anzahl an Rezepten, also 6 oder auch nur 2, aber nie, niemals 3 oder 7), disqualifiziert sich von vornherein. Erstens zeigt diese Haltung die typisch infantile Erwartungshaltung, die heute allgegenwärtig ist – alles, aber auch wirklich alles muss schnell, einfach und unkompliziert zu konsumieren sein , zweitens zeigt es das Ausmaß der Ignoranz angesichts der Tatsache, dass Probleme als auch Lösungen nie endgültig sein können, sondern Prozesscharakter haben, und dass es bei der Lösung von Problemen als erstes darauf ankommt, überhaupt erst einmal ein Problembewusstsein zu schaffen, die Probleme als solche zu benennen, so dass man von dort aus weiter fragen und forschen kann. Selbstverständlich muss Kritik begründet sein, ansonsten handelt es sich um eine bloße Meinungsäußerung. Diese ist lediglich Ausdruck einer irreduziblen subjektiven Perspektive. Dass jede Kritik mitnichten auch gleich eine mundgerechte Lösung mitzuliefern hat, sondern sich aus sich selbst heraus rechtfertigt, diese Einsicht wird heute nicht nur einfach ignoriert, sondern massiv bekämpft. Ein Zeichen dafür, dass Angst im Spiel ist, Angst vor dem Risiko, sein eigenes, festgefügtes Gedankengebäude einer externen Prüfung zu unterziehen.


Verschwörungstheoretiker


Der Vorwurf der Verschwörungstheorie - ein anderes, heutzutage besonders beliebtes Totschlagargument - greift immer dort, wo jemand es wagt, Zusammenhänge zwischen disparaten, sauber abgetrennten Phänomenen zu konstruieren. Er hat letztlich das fatale Ergebnis, ganzheitliches Denkens bereits im Ansatz zu ersticken. Nach diesem Kriterium wäre jeder polizeiliche Ermittler ein Opfer verschwörungstheoretischer Verblendung, sofern er nach der tradierten Maxime vorgeht, nach allen Richtungen hin zu ermitteln. Und wer es wagt, fächerübergreifend zu denken, verwandelt sich in eine einzige Angriffsfläche und ist somit ein leichtes Ziel für die Experten. Mit Bezug auf den Fall Gustl Mollath, der sieben Jahre in der geschlossenen Psychiatrie zwangsuntergebracht gewesen war, stellt Sascha Pommrenke auf Telepolis fest: "Wer stört, wird zerstört".
"Es ist ein gesellschaftliches und vor allem medial gestütztes Klima entstanden, bei dem alle abweichenden Wirklichkeitsinterpretationen als irrational oder krank diffamiert werden. Der Vorwurf Verschwörungstheorie kommt einem Denk- und Sprechverbot gleich. Will man sich nicht der sozialen Ächtung aussetzen, schweigt man lieber. Das Tabu dient dabei nur einem Zweck: Die verordnete Wirklichkeit darf nicht hinterfragt werden. In der Regel ist das auch gar nicht möglich, da die Informationsquellen monopolisiert sind. Wissen ist Macht. (...) Ein elitäres Selbstbild geht einher mit der Höherbewertung der Menschen, die zur eigenen Gruppe gehörig betrachtet werden, und einer Abwertung derjenigen, die als anders, als fremd oder krank wahrgenommen werden."

Spin Doctors


Das rein erkenntnisinteressengeleitete, ergo wissenschaftliche Beobachten und Analysieren, ja man kann sagen die völlige Missachtung jeglichen persönlichen egoistischen Interesses nach Macht und Einfluss, nach Status und Sicherheit, ist so selten geworden, dass, kommunikationstheoretisch ausgedrückt, jedem Sender von Beobachtungen von Seiten der Empfänger automatisch mittels Projektion ein verdecktes Eigeninteresse unterstellt wird, nur um die eigene kognitive Dissonanz zu eliminieren.  Erkennbar sind die häufig in Internetforen anzutreffenden Vertreter dieser Totschlagvariante unter anderem an ihrer stereotyp vorgebrachten rhetorischen Frage "Cui bono?" Sie soll reflektiertes und kritisches Hinterfragen suggerieren. Tatsächlich handelt es sich um pure Gesinnungsschnüffelei. Grundsätzlich unterstellt man damit jedem, der es heute wagt, eine provokante These, einen vom Mainstream abweichenden Standpunkt darzulegen, unlautere Motive wie Eigen-PR, bezahlte Auftragsmeinung, politischen und religiösen Fundamentalismus und Extremismus. Der Gedanke, dass es tatsächlich so etwas gibt wie intellektuelle Neugier, Spaß an der Debatte, Freude an ausgefeilten Argumentationsketten, einfach nur um des potentiellen Erkenntnisgewinns willen, ist heute schier undenkbar, liegt völlig außerhalb des allgemein vorherrschenden ideologisch verengten Horizonts. Eine dezidiert wissenschaftliche Haltung zur Welt ist unter derartigen Diskursbedingungen gar nicht mehr möglich.



Pathologisierung


Nicht zuletzt werden Menschen, die unbequeme Wahrheiten aussprechen, auch einfach als unzurechnungsfähig, als psychisch krank diffamiert. Wenn das geschieht, sollte man besonders genau hinschauen und dem Diffamierten zuhören, denn man kann sicher sein: Vor allem Gegner, die keine Argumente, dafür aber sehr viel Angst vor der Wahrheit haben, greifen zu solch perfiden Unterstellungen - perfide deshalb, weil die Grenzen zwischen dem konformen Mittelmaß und dem über- , unter- oder außerhalb der Norm Stehenden, wie jeder wissen sollte, fließend, historisch und kulturell bedingt sind . Wie heißt es so treffend in George Orwell's "1984": "Geistige Gesundheit ist eine Frage der Statistik." Nur vor solchen, die sich ihren Exoten-Standpunkt aufgrund ihres Status leisten können, wird devot gekuscht, um hinterrücks und feige fieberhaft in der Biografie, im Privatleben, im Dreck zu wühlen, Verleumdungen anzuzetteln, um diesen Unbequemen doch noch von seinem Sockel zu stürzen. Und in einer exhibitionistischen Gesellschaft, in der es kein Privatleben und kein Recht auf Lernen aus Verfehlungen mehr gibt, erwischt es früher oder später jeden.

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