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Sonntag, 17. Februar 2013

Rules are for Fools


"Apathie kann eine Lösung sein. Ich meine, es ist leichter sich in Drogen zu verlieren, als den Schwierigkeiten des Lebens zu begegnen. Es ist leichter, das was man haben will zu stehlen, als zu verdienen. Es ist leichter ein Kind zu schlagen, als es zu erziehen. Liebe ist anstrengend. Sie kostet Mühe und Arbeit."
Detective Lt. William Somerset, aus dem Kinofilm "Sieben", Regie: David Fincher, 1995

"Es scheint mir, dass unser Hang, dem Aggressor beizutreten, der wesentlichste Aspekt unserer gegenwärtigen Lage ist. Dadurch zementieren wir den Gehorsam. Dieser fesselt den Menschen und ist zugleich die Quelle einer unendlichen Wut und der Neigung zur Gewalt."
Arno Gruen, Verratene Liebe, falsche Götter, Klett-Cotta 2003 



Eisblumen
Folgende Fälle haben mir verdeutlicht, dass die menschliche Verkommenheit, der Verfall der Zivilisation eine qualitativ neue Stufe erreicht haben.
 - der Fall des "Kannibalen von Rotenburg", 2001. Unfassbar, dass es Filmemacher gab, die mit der "Story" auch noch Geld verdienen wollten.
- Der Fall Metzler, 2002.  Das Vertrauen eines Kindes wurde missbraucht, das Motiv ist nichts anderes als Geltungssucht, weil der Täter Geld erpressen wollte, um vor der Freundin, der Familien, dem Freundeskreis besser dazustehen.
der Fall des Journalisten Daniel Pearl 2002, dessen Hinrichtung gefilmt und der Öffentlichkeit zugespielt worden ist.

Ein Jahrzehnt später artikuliert der SPIEGEL das Unbehagen über den Verfall der Sitten im dem Essay: Wir Asozialen. (Nr. 34, 20.08.2012). Zu spät.
Mit jeder neuen monströsen Untat, und mit Unzähligen weiterer (von denen wir oftmals gar nichts wissen und erfahren) ist wieder ein Stück aus der Fassade gebrochen, unwiderruflich. Wieder ein Schritt näher an den Abgrund. So etwas frisst sich in das kollektive Bewusstsein einer Gesellschaft. Es ist der Riss in der Fassade, der kurze Blick auf etwas ganz und gar Böses, Krankes, Unheiliges. Hier ist etwas vollkommen aus dem Lot geraten. Eine stabile Population braucht den Ausgleich, das Korrektiv. Um den blinden Fleck in Schach zu halten, zu bezähmen. Dieses Gleichgewicht ist gekippt, wir erleben jetzt die Auswirkungen. Wir dürfen zumindest sagen: Wir sind dabei gewesen. Uns bleibt nicht mehr zu tun als den Verfall, das Scheitern des Experiments zu dokumentieren. Man kann jahrzehntelang eingeübte und frühkindlich sozialisierte Verhaltens- und Denknormen nicht von heute auf morgen umprogrammieren. Die Zeit, die dafür nötig wäre, haben wir nicht mehr. Ja, das System, unser von Menschen geschaffenes System macht Menschen krank und böse, aber das funktioniert eben auch umgekehrt. Rückkopplungseffekt.

Eine Pressemeldung vom 31.05.2010 berichtet über die Forschungsergebnisse einer Meta-Studie unter College-Studenten. Demnach hat sich die Empathiefähigkeit seit der Jahrtausendwende zurückentwickelt:
"Verglichen mit den Studenten der späten 70er-Jahre stimmen heute Studierende Sätzen wie "Manchmal versuche ich meine Freunde besser zu verstehen, indem ich mir vorstelle, wie Dinge aus ihrer Perspektive betrachtet aussehen" deutlich seltener zu. Auch fehle es an Gefühlen für Menschen, die ärmer oder weniger begütet sind, geben die Studenten zu. Aus dieser Geisteshaltung sehen viele Menschen die heutigen Jugendlichen als "Generation Me", die sich durch Attribute wie egozentrisch, ich-bezogen, narzisstisch, individuell und überzeugt auszeichnen."
Eine Gesellschaft, in der "Gutmensch", "Pazifist", "Idealist", "Moralist", "Humanist", "Intellektueller", "Kulturkritiker" als abwertende Schimpfwörter gelten, hat sich bereits vollständig disqualifiziert und vom überlieferten Wertekanon der Zivilisation verabschiedet.

Der Grund für das überhand nehmende Mobbing ist eben nicht nur der gestiegene Arbeitsdruck. Es gibt immer noch hier und da Menschen, die anderen den Spiegel vorhalten: So könntest du auch sein, wenn du nur wolltest. Und die deshalb als Ventil, als Zielscheibe für den Selbsthass und die Selbstverachtung herhalten müssen.

Es ist mittlerweile eine Alltagsbeobachtung, dass Menschen auf moralische Werte und Erwartungshaltungen, mit denen sie konfrontiert werden und von denen sie wissen, dass sie selber unfähig sind, diese zu erfüllen, mit Aggression und Hass reagieren. Das Ausmaß des Hasses und der Ablehnung lässt direkte Rückschlüsse auf das Ausmaß der persönlichen Unfähigkeit, der charakterlichen Defizite zu. Moralisten werden heute nicht mehr nur verspottet, gehasst und verachtet, sondern aktiv bekämpft. Man muss sie ausmerzen, vom Erdboden verschwinden lassen.

Jakob Augstein schreibt über deutsche Reaktionen auf die italienischen Wahlsieger:
"Wo Korruption, Kriminalität und Kleptokratie herrschen, ist der Clown vielleicht die Alternative der Vernunft. Aber Grillo ist gar kein Clown. Er ist ein Moralist. Das ist man in der italienischen Politik nicht gewohnt - in der deutschen auch nicht. Seine Forderungen - Begrenzung der Amtszeiten, Reduktion der Diäten, Gesetze gegen Interessenkonflikte der Politiker - sind alles andere als clownesk. Und die "Grillini", die jetzt ins Parlament einziehen, sind eben keine Technokraten oder Lobbyisten, sondern Volksvertreter im besten Sinne."
Mörder werden heute von den Medien hofiert, als Idol verehrt. Sie sind die Helden unserer Zeit. Diese Art von Psychopathie wird toleriert.

Im Jahr 1965 wurden in Indonesien Millionen angebliche Kommunisten abgeschlachtet. "Was Kriegsverbrechen sind, definieren die Sieger. Und ich bin einer davon", kommentiert einer der Täter seine Morde in dem Film "The Act of Killing" von Joshua Oppenheimer, einer der diesjährigen Berlinale-Beiträge.
"Oppenheimer: Wir alle sind Gäste eines kannibalischen Festgelages. Und wir wissen das und wir fühlen uns schlecht deswegen, aber wir funktionieren weiter, leben, kaufen ein, konsumieren. Sind wir damit nicht den Tätern viel näher als wir glauben?"
Das ist die Welt, in der wir heute leben:
"Dann griffen alle sieben bislang unbekannten Tatverdächtigen den Mann mit Faustschlägen an und traten in der Folge - nahezu im Kreis um das Opfer stehend - auf den Körper und den Kopf des wehrlos am Boden liegenden Geschädigten ein. Ein Versuch des 29-jährigen Begleiters, durch sein Dazwischentreten Schlimmeres zu verhindern, blieb erfolglos, weil er gleichfalls von der Tätergruppe massiv angegriffen wurde."
Die Beschreibung des Täters im SPIEGEL 44/2012, "Die Wut eines Boxers" weist auf eine schwere Persönlichkeitsstörung hin. Das ideale Biotop für den Narzissten, den Psycho- und Soziopathen ist die Ideologie des Neoliberalismus, für die Menschen nur noch als Mittel zum Zweck der Renditemaximierung fungieren.
"Von jeher gab es Menschen ohne Skrupel, berechnend, manipulierend, für die der Zweck die Mittel heiligte. Aber die gegenwärtige Häufung perverser Handlungen in Familien und Unternehmen ist ein Symptom des Individualismus, der unsere Gesellschaft beherrscht. In einem System, das nach dem Gesetz des Stärkeren, des Gerisseneren funktioniert, sind die Perversen Könige. Wenn der Erfolg der oberste Wert ist, erscheint Redlichkeit als Schwäche und Perversität als Gewitztheit.
Unter dem Vorwand der Toleranz verzichten die westlichen Gesellschaften nach und nach auf ihre eigenen Verbotsnormen. Aber dadurch, dass sie einfach zuviel hinnehmen – so, wie es die Opfer der narzisstisch Perversen tun -, tragen sie das Ihre dazu bei, dass perverse Vorgehensweisen sich in ihrer Mitte entwickeln."(Marie-France Hirigoyen, Die Masken der Niedertracht, dtv 2011, S. 236)
In Berlin versuchten Jugendliche, einen Behinderten zu erwürgen, vor laufenden Überwachungskameras. Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, nennt dies ein "ehrloses" Verhalten von Schlappschwänzen, seine Einschätzung entstammt erkennbar einer anderen, längst untergegangenen Welt. Früher kämpfte man gegen Gleichgesinnte, um Rangordnungen zu klären. Heute sucht man sich keine Gegner auf Augenhöhe mehr, sondern "Opfer".

Tausende Menschen sterben jedes Jahr, weil keiner rechtzeitig erste Hilfe leistet, sei es aus fehlender Empathie, vielleicht auch einfach wegen Ekels vor der körperlichen Berührung. In jedem Fall ist es ein Zeichen von Gleichgültigkeit und Soziopathie. Der NDR hat das getestet und einen Autounfall mit einem am Straßenrand liegenden Opfer inszeniert. Im Schnitt hielt nur jeder achte Wagen an, um erste Hilfe zu leisten.

Menschlichkeit und Solidarität existiert nur noch in Schwellen- und Entwicklungsländern. In den Industrieländern dominieren degenerierte amoralische Zombies, die sich gegenseitig zerfleischen. Bei Selbstmordraten, Drogenmissbrauch, psychischen Erkrankungen haben wir im goldenen Westen jedenfalls die Nase vorn. Es ist ein Unterschied, ob jemand stiehlt, weil er seine Familie nicht anders ernähren kann, oder weil jemand ohne Smartphone, ohne Markenkleidung, ohne Sportwagen, von der Gesellschaft nicht mehr als menschliches Wesen anerkannt wird.

Die neoliberale Ideologie hat es geschafft, diese dünne, zerbrechliche, über Jahrhunderte hinweg mühsamst aufgebaute Schicht, die die Menschen von einem rein instinktgesteuerten Zombie trennt, auszuhöhlen. In kaum einer anderen historischen Phase wurden Werte wie Uneigennützigkeit, Rücksichtnahme, Solidarität und Übernahme von Verantwortung für Schwächere, das Teilen und Helfen, derart systematisch stigmatisiert und verachtet.

Nur noch mal zur Erinnerung: Altruismus bedeutet Geben, ohne eine Gegenleistung einzufordern oder zu erwarten. Helfen, einzig aus dem Gründe, weil man helfen kann. Andere Gründe braucht ein Altruist nicht.


Egoismus ist ein Virus. Egoisten produzieren permanent enttäuschte Altruisten und somit neue Egoisten. Kooperationsexperimente zeigen, dass gemeinnützig und kooperativ eingestellte Menschen schlussendlich aus Selbstschutzgründen ebenfalls ihre Kooperationsbereitschaft zurückfahren oder einstellen, wenn sie laufend mit nicht-kooperativen, unfairen Egoisten zu tun haben, die nichts zum Gemeinwohl beitragen, sondern nur auf ihren eigenen Vorteil auf Kosten der Altruisten aus sind. Am Ende wird niemand mehr bereit sein zu kooperieren, höchstens Masochisten.

Ein Minimum an Egoismus im Sinne eines Selbsterhaltungstriebs ist überlebensnotwendig. Wenn ich selber kurz vor dem Verhungern oder Verdursten stehe, denke ich zumindest darüber nach, ob es klug ist, meinen gesamten Nahrungsmittelvorrat an Fremde zu verschenken. Das, was die neoliberale Ideologie jedoch unter Egoismus versteht, läuft auf vorsätzliches, gezieltes, parasitäres Ausnutzen anderer zum eigenen Vorteil hinaus - ohne Schuldgefühle, ohne jede Gewissensbisse. Die Reaktion der enttäuschten Altruisten kann man dann wiederum als Rechtfertigung für die These heranziehen, dass alle Menschen gleichermaßen egoistisch seien.

Der Neoliberalismus dient als ideologische Entlastung für das ungehemmte Ausleben der moralisch verwerflichen, destruktiven Anteile, die in jedem von uns vorhanden sind. Der real existierende Sozialdarwinismus, der Survival of the Fittest ist die Legitimation für asoziales Verhalten. Innerhalb dieses Systems darf der Einzelne ungestraft böse bleiben, man muss sich den Verhältnissen ja anpassen und flexibel sein, nicht wahr? Das staatliche Gewaltmonopol ist heute das letzte Bollwerk gegen die kollektiv ausbrechende Aggression.

Einige wenige reflektierte Foristen haben das Problem erkannt:
68. Allgemeine Verrohung und Desinteresse

Vor 30 Jahren galt man als moralischer Sieger, wenn man den Gegner ins Leere laufen ließ und ignorierte. Heute steht man weder 'drüber noch 'drunter, sondern komplett draußen. Man steht außerhalb des Spiels. Man wird gar nicht mehr wahrgenommen, es sei denn als willkommene Zielscheibe, weil der Rest der Meute nach anderen Regeln spielt. Und die lauten: Schlag du als erster zu, bevor dich jemand anderer schlagen kann. Und schlag so zu, dass der andere nicht mehr aufstehen kann.

Vor 30 Jahren galt man als feige, wenn man sich mit Schwächeren anlegte, zumal im Rudel. Heute ist dieses Verhalten, das Nachtreten, die Rudelhatz normal, gesellschaftlich akzeptiert und zwar auf allen sozialen Stufen: Familie, Schule, Betrieb, öffentlicher Raum. Überall. Es gibt kein Entkommen, keine Schutzräume.

Vor 30 Jahren galt es als Charakterstärke, einen Fehler öffentlich einzugestehen. Heute stellt man sich damit auf die Abschussliste und wird danach nie mehr ernst genommen. Fall erledigt.

Die Umkehrung aller Werte hat stattgefunden, die Zivilgesellschaft ist bereits Geschichte. Es will nur noch keiner wahrhaben.

Rufmord ist die perfekte Waffe der Mittelmäßigen, der Defizienten, der Feiglinge und Blender. Die Rache an denen, die in irgendeiner Weise über den Durchschnitt hinausragen. Es gibt heute keine Möglichkeit mehr, Rufmord und Verleumdungen Grenzen zu setzen. Reagiert man nicht, weil man die Aggressoren bzw. deren Anwürfe für unter seine Würde hält und sich eben nicht auf dieselbe niedere Stufe stellen will – das hat bis vor ein paar Jahren noch als halbwegs wirksame Methode funktioniert -, gilt das für den Aggressor als Schuldeingeständnis, egal wie abstrus die Verleumdungen sind. Das stachelt ihn noch weiter an. Reagiert man dagegen und legt Rechtsmittel ein, gilt dies ebenfalls als Bestätigung der Verleumdungen, denn "getroffene Hunde bellen".

Früher stand man 'drüber. Früher reichte es aus, den moralisch Unzulänglichen mit einem Blick verstummen zu lassen, in die Schranken zu verweisen. Heute hat man nur noch eine Chance, wenn man sich auf dasselbe retardierte Niveau herablässt. Die Kritische Masse wächst und wächst, das kranke System wuchert weiter. Es bringt Menschen hervor, die so dumm sind, so verblödet, dass sie ihre Kinder, ihre Haustiere im Auto bei verschlossenen Fenstern ersticken lassen, weil sie nicht wissen, dass jedes Lebewesen Luft zum Atmen braucht

Man kann heute zweifelsfrei feststellen: Dort, wohin der irrationale Hass des Mobs zielt, dort ist auch die Wahrheit zu finden. Sie wird gefürchtet, verfolgt, gehasst, diskreditiert, wo immer es geht. Folge dem Hass, dann triffst du die Wahrheit. Der Judenhass, der Hass auf die jüdische Intelligenz ist nichts anderes als Neid und Missgunst der Mittelmäßigen, die ihre eigene Mittelmäßigkeit nicht ertragen können. Der Hass auf die Frankfurter Schule ist der Hass auf den Spiegel, der den Deutschen vorgehalten wird. Vielleicht ist die These Sarrazins, dass die ostdeutschen Juden einen genetisch bedingten höheren Intelligenzquotienten haben als die deutsche Durchschnittsbevölkerung, ein perfides rhetorisches Mittel, um diesen Hass erneut anzufachen.

Wir sollten die Begriffe von Macht und Stärke endlich wieder umdefinieren.

Nicht der, der in gepanzerten Limousinen durch die Straßen kutschiert wird, ist mächtig, sondern diejenigen sind es, vor denen er zittert, die ihn dazu zwingen, sich zu panzern.
Nicht der Repressions- und Überwachungsstaat ist mächtig, sondern die Bürger und ihre Wut sind es, vor denen er glaubt sich schützen zu müssen.

Nicht der Außenseiter ist schwach, sondern die Herdentiere sind es, die seine bloße Existenz, sein Anders-sein als Infragestellung ihres eigenen labilen Selbstbilds fürchten und ablehnen müssen.

Nicht die Zielscheibe von Mobbing- und und Rufmordattacken in den Familien, auf den Schulhöfen, in den Unternehmen, im Internet, in der Gesellschaft sind schwach, sondern die hinterhältigen Aggressoren, die gezwungen sind, sich feige im Schutz der Anonymität, hinter dem Rücken der anderen, im Rudel verstecken zu müssen, weil sie zu einer direkten Konfrontation, zu einem face-to-face Schlagabtausch gar nicht in der Lage wären.

Der Weg des geringsten Widerstands, das Mitlaufen in der Herde ist immer einfacher. Es ist leichter, etwas kaputt zu machen als neu aufzubauen. Es ist immer einfacher, Geld zu stehlen anstatt es selber zu erarbeiten. Es ist leichter zu lügen, als für eigene Fehler gerade zu stehen. Es ist leichter zuzuschauen als ein Risiko einzugehen und einzugreifen. Es ist leichter, den Trampelpfad der Eltern einzuschlagen, den väterlichen oder mütterlichen Beruf zu wählen, als sich der lebenslangen Strafe des Verräters, des Abtrünnigen, des Sündenbocks auszusetzen. Es ist leichter, die Welt in Schubladen zu stecken und Etiketten draufzupappen anstatt ein Leben lang sich und die Realität kritisch zu hinterfragen, in Frage stellen zu lassen, Änderungen und Korrekturen vorzunehmen. Wer kennt denn jemanden, der öffentlich eingesteht: Ich habe mich 20 Jahre lang geirrt, ich muss mich korrigieren?

Es ist immer und grundsätzlich einfacher, einem Einzelnen die Schuld zuzuschieben als das ganze (kaputte) System in Frage zu stellen. Man kann schon aus rein erkenntnistheoretischen Gründen niemals Missstände erkennen, wenn man selber Teil des Systems ist und von ihm profitiert. Dazu wäre kritische Distanz nötig, und die haben die "Sieger" nicht, sondern nur die Außenseiter. 

Und sie, die Außenseiter, die randständigen Existenzen, die Unangepassten, die Unbestechlichen, die klugen kritischen Hinterfrager, die hellsichtigen Sensiblen mit den tausend Antennen, sind deshalb auch die einzigen, die in der Lage sind, die perfiden "10 Strategien der Manipulation" der herrschenden Klasse (siehe hierzu die scharfsinnige Erläuterung von Jascha Jaworski bei Telepolis, 10.08.2013, ) zu durchschauen und sich ihnen zu entziehen. Und genau aus diesem Grund werden sie systematisch ausgegrenzt, stigmatisiert und kalt gestellt.

Wer Bindungen hat, jemanden oder etwas liebt, sein Herz an etwas hängt, ist verletzlich, angreifbar, hat Verantwortungsbewusstsein, Gewissen, Schuldgefühle - im Gegensatz zu Psychopathen. Bestrafung wirkt nur bei den Guten. Die Neurologie sagt uns, dass das Gehirn Ausgrenzung und Demütigung genau wie körperlichen Schmerz bewertet und deshalb darauf mit Aggression reagiert.

Wenn Betrug zur Norm wird, stehen Ehrliche immer unter dem Generalverdacht, ebenfalls zu betrügen. Sie sind dann in der Beweispflicht. Und wie will man etwas nachweisen, was nicht nachzuweisen ist? Wie will ein authentischer Account nachweisen, dass seine follower und likes nicht gekauft sind? Wie will jemand, der seine akademische Abschlussarbeit selbstständig ohne Hilfe anfertigt, nachweisen, dass er keinen Ghostwriter beauftragt hat? Wie will jemand, der seine Meinung vertritt, nachweisen, dass er nicht von der Politik oder der Industrie gekauft ist?

Man kann folgenden Mechanismus besonders bei Institutionen der Strafverfolgung und den Sozialbehörden beobachten: Wer "sauber" ist, gilt von vornherein als verdächtig. Notfalls wird einem eben eine Verfehlung angedichtet, eine Welle von Schikanen initiiert, damit der "Verdächtige" ins Schema passt, damit die Welt für die Apparatschiks wieder in Ordnung ist. Diese Institutionen sind zwingend darauf angewiesen, die Rechtfertigung und moralische Begründung für ihre eigenen Schweinereien, nämlich ihr erklärtes Feindbild permanent selber zu produzieren. Ein langjähriger Arbeitsloser hat mir diesen Mechanismus erklärt: "Erst wenn sie etwas finden, lassen sie einen in Ruhe." Bei ihm hat das wunderbar funktioniert. Er hat den mutigen und unbestechlichen Kämpfern gegen Sozialbetrug freiwillig einen Knochen vorgeworfen und nun wird er zum Dank dafür in Ruhe gelassen. You reap what you sow.

Der tatsächliche Stellenwert menschlicher Würde und des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit lässt sich an der Rechtsprechung ablesen. Eigentumsdelikte werden mindestens genauso hart bestraft wie Körperverletzung und Vergewaltigung. Für einen besonders schweren sexuellen Missbrauch von Kindern gibt es laut kanzlei.de derzeit eine Höchststrafe von 15 Jahren, dasselbe Strafmaß wie für Geldfälschung. Mehr muss man nicht wissen.

Das Ausmaß des Zivilisationsverfalls lässt sich direkt ablesen an der Art und Weise, wie Kinder, Alte und Kranke  behandelt werden, sowie alle Bevölkerungsgruppen, die keine zahlungskräftige Lobby haben, ganz abgesehen von den Tieren und der "Umwelt".

Man muss es heute geradezu als Ehre und Auszeichnung auffassen, nicht systemkompatibel zu sein.

Wenn "Humanismus" definiert wird als eine Geisteshaltung, eine Kultur, in der der Mensch und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen, dann leben wir definitiv in anti-humanistischen, sprich menschenfeindlichen Zeiten. Und wenn Menschenwürde definiert wird als das Recht, nicht willkürlich gedemütigt, verletzt und entwürdigt zu werden, dann ist die UN-Menschenrechtscharta ein einziges Zerrbild der Realität, ein Märchen, ein Stück Fantasyliteratur. 

Mit der Aufgabe, ein gerechtes und friedvolles Zusammenleben zu ermöglichen, sind Menschen offensichtlich überfordert. Gerecht ist heute nur noch das, was dem Stärkeren nützt. Das Böse siegt langfristig immer, das liegt in der Logik der Sache. Weil’s einfacher ist, auf anderen herumzutrampeln, um dadurch von seinen eigenen Defiziten abzulenken, weil Bosheit in heutigen amoralischen Zeiten auf weniger Widerstände trifft und schneller, nämlich innerhalb der eigenen Lebensspanne Erfolg und Belohnung verspricht, Respekt und Bewunderung der servilen Herde einbringt. Die Bösen werden für ihre Bosheit, für ihre scheinbare Stärke respektiert und bewundert, die Guten wegen ihrer scheinbaren Schwäche und Nachgiebigkeit verachtet und bekämpft. Auch deshalb, weil sie der allgegenwärtigen Bosheit den Spiegel vorhalten, sich als denkbare Alternative exponieren: Es geht auch anders. Und das kann wiederum kein Charakterschwein lange ertragen. Also muss die Welt zwanghaft überball auf dasselbe Bosheits-Level gebracht werden.

Der Nachwuchs steht schon in den Startlöchern:
"Möglicherweise neigen aber die älteren, besser gebildeten Schüler auch deswegen im Gedankenspiel zur schnellen, wenn auch kriminellen Bereicherung, weil sie schon bald mit dem mühsamen Arbeitsleben konfrontiert sind - oder viele entsprechende Vorbilder in der Wirtschafts- und Finanzwelt sehen und sich fragen, warum sie ehrlich und arm bleiben sollen."
Warum sind Filme wie "Falling down", "Sieben" oder "Thelma und Louise" oder andere mit dem mehr oder weniger offen dargestellten Thema der Selbstjustiz so verstörend? Weil wir uns mit diesen Außenseitern und randständigen Existenzen identifizieren und insgeheim denken: Irgendwie haben die ja Recht?

Das kollektive und strukturelle Böse kann jederzeit ausbrechen. Beispiele kennt die Geschichte der Menschheit reichlich: Die Ausrottung der mexikanischen Indios durch Christen. Die Stammeskriege im Kongo, in Ruanda. Kambodscha. Nazi-Deutschland. Ermöglicht werden solche Völkermorde durch Ideologie. "Der ist nicht wie ich", durch Ausgrenzung, Abwertung und schließlich Entmenschlichung.

Medienerzeugnisse wie Psychothriller, Kinofilme oder Computerspiele werden immer bestialischer, die Dosis muss ständig erhöht werden. Der Konsum dieser Erzeugnisse wird zur Ersatzhandlung für eine insgeheim vom Bösen und Kranken faszinierten Gesellschaft. Hier wird die Saat des Misstrauens gelegt. Jeder andere ist potentiell mein Feind.

Böses gebiert Böses. Die deformierte amoralische Gesellschaft bringt permanent deformierte amoralische Menschen hervor. Gut sein lohnt sich in dieser Welt nicht. Es zahlt sich buchstäblich nicht aus. Mit den öffentlichen Ehrungen für "Zivilcourage", etwa bei "Aktenzeichen XY", bei der Polizeiaktion "Tu was" sollen lediglich die letzten Reste der früheren, mittlerweile erodierten, abgewürgten Zivilgesellschaft gerettet bzw. ihr bereits Abgestorbensein kaschiert werden. Allein die Tatsache, dass es solcherart Belohnungssystem braucht, um Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft zu fördern, ist zutiefst beschämend.

Werte und Normen, die bürgerliche Eltern und höhere Schulen den Kindern mühsam einzutrichtern versuchen, erleben die später Herangewachsenen als Lüge, als Märchen, als realitätsfremd. Vergesst alles, was Ihr in Kinderbüchern und Märchen gelesen habt, was euch Familie und Schule erzählt haben, was euch die Medien und Kulturindustrie vorgaukeln wollen. Es ist nicht das Gute, das siegt, sondern das Böse. Klar, es gibt immer mal wieder Etappensiege, so wie die Abschaffung der Sklaverei, die Proklamierung der Menschenrechte, die Renaissance, die Aufklärung. Aber diese Scheinerfolge werden nun in kürzester Zeit zurück genommen. Das Ziel des Neoliberalismus ist die Abschaffung des National- und vor allem des demokratisch legitimierten Rechtsstaates, die Erlangung der weltweiten Lizenz zur Befriedigung narzisstischer Allmachtsgefühle unter dem Vorwand der legitimen Selbstverteidigung, der Besitzstandswahrung. All dies dient der Vorbereitung für den bevorstehenden finalen Abschuss der Zivilisation.

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