Seiten

Sonntag, 10. Februar 2013

Multikulturelle Gesellschaft oder universalistische Weltgesellschaft?

Analyse einer möglichen Alternative

Grundsatzfragen wie die nach einer möglichen Gesellschaftsform hängen nicht irgendwo im luftleeren Raum herum. Sie reagieren vielmehr auf eine kurzatmige innenpolitische Diskussion um die mittelbaren Auswirkungen bestimmter globaler Konflikte.

Bei der Frage, was mit den im Umfeld dieser tagespolitischen Themen gängigen Schlagwörtern wie „multikulturell“ gemeint sein könnte, sollte man sich zunächst zweckmäßigerweise an deren feuilletonistischen Gebrauch halten. Begriffsdefinitorische Setzungen bleiben einem dadurch erspart.
Das utopische Fernziel, das den Befürwortern einer „multikulturellen Gesellschaft“ offenbar vor Augen steht, ist ein gleichberechtigtes Nebeneinander von differenten, möglicherweise auch antagonistischen Lebensweisen, die sich u.a. bestimmten ethnischen Eigenheiten verdanken. Mit diesem Konzept soll das Denken in nationalen Zugehörigkeiten verabschiedet und nebenbei ein therapeutischer Nebeneffekt in Bezug auf den Fremdenhass erzielt werden.
Wie hat man sich diese Vision nun praktisch vorzustellen?

Würde man den Selbstbehauptungs- und Selbstentfaltungsansprüchen fremder Kulturen wirklich ernstnehmen und das Konzept der multikulturellen Gesellschaft konsequent zuende denken, dann würden fremde Kulturen beispielsweise zwar auf eine eigene Währung verzichten wollen, mit Sicherheit aber nicht auf ihre eigene Sprache.

Das hieße aber, dass die notwendige Verständigung untereinander schon an der Sprachbarriere scheitern müsste, die Kulturen hätten sich buchstäblich nichts zu sagen. In weiser Voraussicht solcher Verhältnisse, die ja nichts weiter wären als ein neues Babel, insistiert man darauf, dass die Beherrschung der einheimischen Sprache unabdingbar ist. Diese wäre dann für die fremden Kulturen eine Art Verkehrssprache, ein Vehikel als Minimalvoraussetzung für den notwendigen Integrationsprozess.

Spätestens hier zeigt sich, dass „multikulturelle Vielfalt“ nichts anderes meint als ethnische Vielfalt, dass „Kultur“ auf eine Nationalitätszugehörigkeit reduziert und dass damit also genau dem Denken Vorschub geleitet wird, das mit diesem Konzept doch eigentlich überwunden werden soll.

Wenn man sich vorläufig darauf einigt, dass Kultur auch etwas zu tun hat mit einer bestimmten Wirklichkeitsdeutung, mit Wertmaßstäben und kollektiv ausgehandelten Normen, dann ist in einer multikulturellen Gesellschaft der Konflikt beispielsweise zwischen eigenen und fremden Normen unvermeidlich. Grundrechte sind nun einmal nicht kompromissfähig.

Was aber nur heißen kann, dass neben der Verfassung auch das eigene Rechts- und Bildungssystem absolut unangetastet beleiben muss. Weil die Integration von so verstandenen kulturellen Lebensweisen schon aus dem legitimen Selbsterhaltungsinteresse der eigenen Kultur heraus sich schlicht verbietet, kann es sich bei diesem Gesellschaftsentwurf bestenfalls um ein beziehungsloses Nebeneinander von partikularen ethnischen Inseln handeln. So gesehen leben wir schon längst in einer multikulturellen Gesellschaft und wissen es nur noch nicht.

Vom Standpunkt eines multikulturellen Pluralismus aus drängt sich das entsprechende Gegenstück in Form eines negativ besetzten, weil zwangsläufig repressiven Universalismus auf.

In der Tat ist das universalistische Prinzip, der Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen, immer einer Begründungsproblematik unterworfen. Universalistische Staats- und Gesellschaftsentwürfe, die sich nicht einem Totalitarismusverdacht aussetzen wollen, müssen ihren Allgemeingültigkeitsanspruch auf einem Begründungs- und Rechtfertigungsweg vertreten. Und hier kündigt sich eine Schwachstelle an: Die gesellschaftlichen Diskursbedingungen selber nämlich sind nicht universal, sondern setzen schon ein ganzes System von Begründungsregeln voraus, die ihrerseits kulturspezifisch zu nennen sind. Es wäre sogar denkbar, dass die Antwort auf die Frage, was denn überhaupt als Argument gelten kann und was nicht, in kulturspezifischer Weise variiert.

Was zu dem Schluss führt, dass der Universalismus einer Weltgesellschaft entweder ein Widerspruch in sich ist oder eben nur ein schlechter Universalismus, der, anstatt sich argumentativ auszuweisen und zu legitimieren, einfach Fakten setzt, wie sich am Beispiel des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der Medienindustrie ablesen lässt.

Die immanente Logik des Marktes sorgt für seine eigene, unkontrollierbare und, nach dem Scheitern des sozialistischen Korrektivs, auch konkurrenzlose Installation, wodurch Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung nicht-westlicher Kulturen zwangseingeebnet werden.
Bei der zugrundeliegenden Fragestellung kann es sich deshalb nicht um eine echte Alternative handeln, weil die Entscheidung offenbar schon zugunsten einer universalistischen Weltordnung westlicher Prägung gefallen ist – zugunsten desjenigen westlichen Rationalismus, der zugleich für die Atombombe und die ökologische Verwüstung verantwortlich zu machen ist.


(geschrieben irgendwann um 1990, handschriftlich auf Papier, ausformuliert am Mac)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen