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Mittwoch, 13. Februar 2013

Vor dem Bücherregal



Joachim Jung
Der Niedergang der Vernunft
Kritik der deutschsprachigen Universitätsphilosophie
Campus, 1997
"Vorlesungen, in denen leere Gedanken hin- und hergeschoben werden; Aufsätze, die niemand liest; Philosophiezeitschriften, deren Seiten noch druckfrisch aneinanderkleben; eine grinsende Visage, die dem Prüfling sagt: 'Wir werden Sie nicht durchkommen lassen'; Anrufe im Hintergrund,; Absprachen, Lügen, Fallen. Warum geschieht dies alles? Es geschieht, weil Valentina K. jeden Morgen um fünf Uhr zur Arbeit geht. (...) Die Hüter der Wahrheit können ihre dubiosen Beschäftigungen und sterilen Reden nur pflegen, weil Valentina K., das heißt: die gesamte arbeitende Bevölkerung, ihnen die materiellen Grundlagen dafür bietet." (S. 133/134)
Dies ist eine der wenigen Arbeiten, die den akademischen Betrieb von innen kritisch durchleuchtet. Auch konkrete Verbesserungsvorschläge fehlen nicht. Die skandalösen Fallbeispiele, die der Philosoph Jung in diesem Buch recherchiert hat, sind Grund genug, alle Ambitionen innerhalb der institutionellen deutschsprachigen Philosophie fahren zu lassen. 
Das Interesse in der Bevölkerung an philosophischen Grundsatzfragen nach dem guten Leben, nach einer besseren Gesellschaft ist groß. Ganzheitliches, zukunftsorientiertes Denken, auch und besonders kreatives, spekulatives, mutiges Denken, das die großen Systeme der deutschen Philosophie hervorgebracht hat, von denen die Zunft bis heute zehrt, ist heute nötiger als je zuvor. Aber der universitäre Betrieb reproduziert seit Jahrzehnten blind und unbeirrt sein Mittelmaß. In den Fakultäten und Instituten herrscht autoritäre professorale Willkür, Seilschaften agieren ohne jegliche Kontrolle, und alles bequem auf Kosten der Steuerzahler. Neue Methoden, frische Ideen, junge Talente werden bereits im Keim erstickt, gefördert werden stattdessen gehorsame, auf Reproduktion dressierte, devote Adepten. Das Ergebnis dieser Negativauslese präsentiert sich dem Beobachter außerhalb des Betriebs, erst recht jenseits der deutschsprachigen Grenzen, als selbstbezügliche eitle Nabelschau, als Widerkäuer des historischen Erbes, das einen zum Erbrechen aufgeblähten Jargon pflegt. Die deutsche philosophische Forschung ist heute - gerechterweise, muss man sagen - international hoffnungslos abgehängt. Gebt ihr endlich den Gnadenschuss, sie hat es nicht anders verdient.




Burkhard Riedel
Lebe deinen Traum
Perspektiven, Projekte, Praxistips
Knaur, 1997

In diesem Buch haben mich damals besonders folgende Passagen nachhaltig beeindruckt.
"Wir leben in einer paradoxen Situation. Verwenden wir einige Minuten darauf, uns darüber klar zu werden. Einerseits eröffnet sich unser Horizont immer weiter. Wir reisen zu immer ferneren Zielen, wir haben Zugang zu immer mehr Informationen, zu mehr Fernsehprogrammen, zu mehr Kontakten - im Internet weltweit. Andererseits wird unser Horizont immer enger: Immer spezieller werden unsere Berufsfelder. Immer tiefer dringen Experten in immer kleinere Spezialgebiete vor. Immer weniger können wir von den wahrnehmen, was links und rechts von unserer beruflichen Schmalspur liegt. (S. 13)
"Es sind wirtschaftliche Zwänge, die diese immer extremere Spezialisierung vorangetrieben haben: Ganze Staaten ebenso wie einzelne Unternehmen wollen damit ihren Vorsprung in Technologie und Forschung sichern. Auf den einzelnen Menschen wird dabei keine Rücksicht genommen."  (S. 13/14)
"Die Ansprüche an unser Leben, zusätzlich angeheizt durch die raffinierten Wünschewecker einer immer aggressiveren Werbung, lassen sich immer schwerer mit der eigenen Lebenswirklichkeit vereinbaren. Gerade die Nachdenklichen können an dieser Erkenntnis zerbrechen." (S. 14)
Damit hat einer von diesen nachdenklichen und hellsichtigen Menschen, von denen es immer weniger gibt (sind die alle ausgewandert?), ein Grundproblem auf den Punkt gebracht. Die Diagnose des Journalisten und Chefredakteurs ist heute immer noch gültig und schonungslos im Detail. Er hat seine persönliche Konsequenzen aus der Situation gezogen, seine Sachen gepackt und ist abgehauen. Wieder ein Stück Melkvieh, das aus dem Stall ausgebrochen ist. Einer von ungezählten anderen, 15 Jahre, bevor uns Bestsellerautoren wie etwa der Psychologe Bast Kast in seinem Buch "Ich weiß nicht, was ich wollen soll" (s.u.) dieses Freiheitsparadoxon als seine eigene neue Erkenntnis verkaufen – wobei er auch noch sowohl die von Riedel angeführten, unstrittigen ökonomischen Sachzwänge unterschlägt als auch eine ihrer für die gesellschaftliche Entwicklung schwerwiegenden Folgen, nämlich die zunehmende berufliche Spezialisierung. Dieses Déja-vu Erlebnis habe ich mittlerweile bei vielen Neuerscheinungen. Entweder sind da ein paar Leute sehr clever und betreiben Ideenrecycling, oder sie haben sehr schlecht recherchiert. Das ist es nebenbei auch, was brain-drain wirklich für eine Gesellschaft bedeutet: Der Zwang für die Zurückgebliebenen, das Rad ständig neu erfinden zu müssen.



Bas Kast
Ich weiß nicht, was ich wollen soll
Warum wir uns so schwer entscheiden können und wo das Glück zu finden ist
Fischer, 2012

Und ich weiß immer noch nicht, was ich von diesem Buch halten soll. Die Penetranz, mit der Kast den Begriff "Wohlstand" verwendet, lässt Schlimmes vermuten. Übrigens war es mir nicht möglich, das Cover dieses Buches vollständig aus der Bildersuche downzuloaden. "Keine Berechtigung". Sowas Affiges habe ich in den letzten 15 Jahren, die ich im Internet unterwegs bin, noch nicht erlebt.
"Insgesamt gehört Deutschland bekanntlich nicht nur zu den demokratischsten, sondern auch zu den wohlhabendsten – und ich würde sogar hinzufügen: lebenswertesten – Ländern der Welt." (S. 11)
Ein Satz wie aus einer Werbebroschüre für den Standort Deutschland. Eine derart subjektive und tendenziöse Einschätzung hat in einem populärwissenschaftlich orientierten Sachbuch nichts zu suchen. 

Eine mildere Interpretation lässt den Schluss zu, dass der Autor einen sehr eingeschränkten Horizont hat und / oder ein sehr elitäres soziales Umfeld. Dennoch hält die kritische Öffentlichkeit seine Arbeit für preiswürdig. Das zeigt, dass diese Haltung inzwischen deutscher Mainstream ist, absolut gesellschaftskonform, ja sogar vorbildlich. Die Ober- und Mittelschicht, diejenigen, die sich noch in der privilegierten Lage sehen, sich derartigen Reflexionen hinzugeben - wer bin ich, wohin will ich, was fehlt mir? - gibt den Ton an, der andere Teil der Gesellschaft, der sich, nicht selten ein ganzes Leben lang, ohne Perspektive, ohne Aussicht auf eine Verbesserung der Lage, mit existenziellen Problemen konfrontiert sieht, wird nicht mehr wahrgenommen: Menschen, die kein Geld für Strom, Gas und Heizöl haben, kein Geld für Medikamente, Zahnersatz oder Brille, für den Schulausflug ihrer Kinder, Menschen, die im Alter von 50 Jahren vergeblich einen Job suchen, Menschen, denen eine Hauspfändung bevorsteht. Im Deutschlandbild des Bas Kast und seiner Zielgruppe existieren sie nicht.
"Im Laufe der Recherche wurde dabei eine Sache immer klarer: Selbst so großartige Errungenschaften wie Freiheit und Wohlstand können ihre Schattenseiten haben, Schattenseiten, die uns unzufrieden stimmen und sogar krank machen können." (S. 13)
Man weiß hier nicht, ob man lachen oder weinen soll. Offenbar kennt Kast die Ergebnisse des jährlichen Armutsberichts der Bundesregierung nicht, er sieht die Obdachlosen nicht, die Bettler, die Pfandflaschensammler. Er hat Meldungen von verhungerten Kleinkindern nicht gelesen. Möglicherweise ist der Autor aber auch extrem clever und versteckt in seinem Buch eine hintersinnige Gesellschaftskritik?

Eines der wenigen wirklich interessanten Erkenntnisse dieses Buches ist der geschlechtsspezifische Glücks-Unterschied:
"In der Studie untersuchten zwei US-Ökonomen minutiös, wie sich die Lebenszufriedenheit von Frauen und Männern der "westlichen" Welt in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. (...) Als die Wissenschaftler das taten und die Glücksangaben von Männern und Frauen aus den 1970er Jahren bis heute auswerteten, offenbarte sich ihnen ein Ergebnis, das sie zunächst kaum glauben konnten. Verblüfft stellten sie fest, dass sich das Glück je nach Geschlecht unterschiedlich entwickelt hat: Während es bei den Männern über die Jahrzehnte weitgehend konstant geblieben bzw. sogar leicht gestiegen ist, sind die Frauen mit der Zeit – größtenteils relativ zu den Männern, teils aber auch absolut – immer unglücklicher geworden. Waren die Frauen in den 1970er Jahren noch eindeutig glücklicher als die Männer, so hat sich dieses Glücksplus über die Jahrzehnte, schleichend, Stückchen für Stückchen in Luft aufgelöst."  (S. 23 f.)
Bas Kast (und seine Geschlechtsgenossen) mögen sich über das weibliche Glücksdefizit wundern, er hätte vielleicht mal mit ein paar Frauen der Jahrgänge 1960-70 reden sollen, wie sie die letzten Jahre erlebt haben. Mich jedenfalls wundert das Studienergebnis überhaupt nicht. Wer in Deutschland des 21. Jahrhunderts glücklich sein will, muss folgende Voraussetzungen mitbringen: Männlich, Erbe, vermögendes Akademiker-Elternhaus mit besten Kontakten in Wirtschaft, Verwaltung, Politik. Und natürlich CDU oder CSU-Parteigänger.



Ernest Callenbach
Ökotopia
Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999
Rotbuch, 1975 (vergriffen)

Warum dieses Buch keine Pflichtlektüre in der Schule geworden ist, begreife ich nicht. Stattdessen haben wir Brave New World und Lord of the Flies gelesen. Ja, das sind zweifelsfrei sehr gute Bücher, aber eben Dystopien. Ich fand die Idee der rituellen Kriegsspiele zuerst vollkommen inakzeptabel, aber mit den Jahren ist die ernüchternde Einsicht gewachsen, dass es gar keine so schlechte Idee wäre, in einer pazifistischen Gesellschaft die Männer - und warum nicht auch Frauen - "unter Aufsicht" im Rahmen eines inszenierten Rituals gegeneinander kämpfen zu lassen. Die Lektüre von "Ökotopia" erzeugt bei mir einen bohrenden Sehnsuchtsschmerz, heute noch mehr als damals, in den 70ern, als es noch Grund zur Hoffnung gab, diese Ideen wenigstens partiell verwirklichen zu können. Seitdem wird die Kluft zwischen dem Traum, wie ein gutes Leben aussehen könnte, und dem, was wir um uns und in uns vorfinden, den "alternativlosen" Sachzwängen, in den wir bis zum Hals stecken, mit jedem Jahr unüberbrückbarer. Vielleicht ist das der Grund, warum so viele Menschen positive Utopien einfach nicht mehr ertragen können: Es ist mittlerweile leichter, sich die Katastrophe schön zureden als sich eingestehen zu müssen, dass wir es vermasselt haben, ein für allemal.



Heribert Prantl
Wir sind Viele
Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus
Süddeutsche Zeitschrift Edition, 2011

Einer der wenigen klugen Köpfe hierzulande, die sich noch trauen, Klartext zu reden und zu schreiben.
"Das Leben beginnt ungerecht, und es endet ungerecht, und dazwischen ist es nicht viel besser. (...) Der eine wächst auf mit Büchern, der andere mit Drogen. Der eine kommt in eine Schule, die ihn stark macht, der andere in eine, die ihn kaputt macht. Der eine ist gescheit, aber es fördert ihn keiner, der andere ist doof, aber man trichtert ihm Wissen ein. Der eine müht sich und kommt keinen Schritt voran, der andere müht sich nicht und ist ihm hundert Schritt voraus. Der eine ist ein Leben lang gesund, der andere wird mit einer schweren Behinderung geboren.Die besseren Gene hat sich niemand erarbeitet, die bessere Familie auch nicht. Das Schicksal hat sie ihm zugeteilt. Es teilt ungerecht aus und es gleicht die Ungerechtigkeiten nicht immer aus. Nicht derjenige, der das ändern, der das ausgleichen will, so gut es geht, ist dekadent – sondern derjenige, der es dabei belassen will." (S. 22/23)



Alfred Kubin
Die andere Seite
Ein phantastischer Roman
Edition Spangenberg, 1975

In seinem phantastischen Roman "Die andere Seite" von 1909 hat der Zeichner Alfred Kubin am Vorabend des ersten Weltkriegs das kommende Unheil erahnt. Man lese die Schlusskapitel des dritten Teils, "Der Untergang des Traumreichs", insbesondere "Die Hölle", den orgiastischen Selbstvernichtungsfeldzug, die totale Zersetzung und Auflösung, den völligen Zusammenbruch der Zivilisation. Ich finde, dieses Buch ist wieder hochaktuell, übrigens genauso wie "Biedermann und die Brandstifter" von Max Frisch und "Die Physiker" von Friedrich Dürrenmatt.





Tom Schimmeck
Am Besten nichts Neues
Medien, Macht und Meinungsmache
Westend Verlag, 2010


Das Image von Journalisten in der Öffentlichkeit rangiert regelmäßig bei Umfragen dieser Art auf den untersten Plätzen, irgendwo zwischen Makler und Autoverkäufer. Trotzdem kommt ein Journalist wie Tom Schimmeck nun daher und behauptet frech: "Wir werden gebraucht." Sein neues Buch zeigt auf, warum.

Seit geraumer Zeit sind Entwicklungen im Gang, die Anlass zur Besorgnis geben müssen – zumindest für unverdrossene Idealisten wie Schimmeck, die freie und unabhängige Medien als unabdingbare Voraussetzung ansehen für Transparenz, für sachliche Kontroversen, für die freie Meinungsbildung des Bürgers als mündiges Mitglied einer demokratischen Öffentlichkeit:
Der Konzentrationsprozess bei den Eigentumsverhältnissen großer Medienkonzerne; die Einflussnahme von politischen Parteien und Lobbyisten auf redaktionelle Inhalte; die Bewertung - man könnte auch sagen Entwertung - journalistischer Arbeit ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten mit der Folge, dass zeitaufwändige Hintergrundrecherche, fundierte Argumentation, erst recht kritische Reflexion unter den Tisch fallen. Hinzu kommt eine oftmals eindimensionale Berichterstattung bei politischen Kontroversen (die Schimmeck am Beispiel der Medienkampagne gegen Kurt Beck und Andrea Ypsilanti darstellt), aber auch bei scheinbar nüchternen Sachthemen, besonders greifbar am Beispiel des Wirtschaftsressorts, das für Schimmeck "zur marktfundamentalistischen Sekte" verkommen ist. Schließlich sei noch ein einkommensschichtspezifischer blinder Fleck genannt, vor allem in Bezug auf Themen wie soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Ursache davon ist der Umstand, dass der journalistische Nachwuchs sich zunehmend aus der saturierten Mittelschicht heraus rekrutiert, mit dem Ergebnis, dass diejenigen, die Macht ausüben, und diejenigen, die ihnen dabei auf die Finger schauen sollen, aus demselben Stall kommen. Zwischen karrierebewussten Journalisten und geltungssüchtigen Politikern etabliert sich damit eine gegenseitige Abhängigkeit, die den Medien kaum eine Chance lässt, wieder zur einstigen "vierten Gewalt" zu werden.

Diese Entwicklungen – von denen bereits jede einzelne im Kern demokratiefeindlich zu nennen wäre – werden in dem Buch von Tom Schimmeck eindringlich beleuchtet. Seine Beispiele aus dem Journalistenalltag, wie etwa ein Besuch bei der Bundespressekonferenz oder die Interviews mit einem US-Lobbyisten und der Chefin einer Casting-Agentur sind authentisch und treffend, seine Sprache ist lebendig und hebt sich wohltuend ab von Veröffentlichungen, die per copy & paste wirr zusammengestückelt werden.


Tom Schimmeck teilt allerdings das Schicksal aller Autoren, die in bester aufklärerischer Absicht versuchen, gegen die "Vernebelung der Köpfe" anzuschreiben: Denn gelesen werden ihre Bücher in erster Linie doch wohl von den noch weitgehend Unvernebelten, die ihre eigenen Vermutungen nur noch einmal aus berufenem Munde bestätigt wissen wollen. Dennoch: Allein die Tatsache, dass solche Bücher überhaupt gelesen werden, macht deutlich, dass es in unserer schönen bunten Medienwelt einen großen Bedarf an Aufklärung und Orientierung gibt. Und wer sonst als die Journalisten selber, als diejenigen, die die Mechanismen der "Meinungsmache" nur zu gut kennen, könnte sie uns geben? Es ist wohl wahr: Journalisten wie Tom Schimmeck werden dringend gebraucht.





Hans-Joachim Maaz
Die narzisstische Gesellschaft
Ein Psychogramm
C.H. Beck, 2012










Volker Weiß
Deutschlands Neue Rechte
Angriff der Eliten - von Spengler bis Sarrazin
Schöningh, 2011










Susan Cain
Still
Die  Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt
Riemann, 2011

Ok, ich gebe es zu: Dieses Buch habe ich mir in erster Linie wegen des Covers gekauft. 

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